Lucian
Sonne, die ich auch heute um den Hals trug.
»Den Anhänger«, sagte er. »Hat dein Dad ihn dir zur Einschulung geschenkt?«
Ich schluckte. Das hatte ich nicht erwähnt. Oder doch? Ich hatte keine Ahnung.
»Hast du ein Kleid getragen?«, flüsterte Lucian. »Ein blaues? Hellblauer Frottee? Mit einem aufgedruckten Goldfisch?«
Meine Kehle zog sich zusammen. »Ich weiß nicht.«
Jetzt flüsterte ich ebenfalls. Ich wusste es wirklich nicht. Aber es kam mir vertraut vor. Mein Herz klopfte schneller. »Wieso fragst du das?«
»Deine Schultüte«, fuhr Lucian anstelle einer Antwort fort. »War sie rot? Mit weißen Punkten?«
Mein Herz stolperte, schlug weiter. »Ich weiß es nicht. Warte mal. Bist du, sind wir . . .« Der Blitz einer möglichen Erklärung durchzuckte mich.
». . . bist du Leon?«
Plötzlich hatte ich den mageren schwarzhaarigen Jungen vor Augen, mit dem ich zur Grundschule gegangen war. Bei der Einschulung hatte er einen grauen Nadelstreifenanzug getragen. Er wurde immer von seiner Großmutter gebracht und seine Butterbrote waren mit gekochten Eiern und Remoulade belegt. Das ganze Klassenzimmer hatte danach gestunken.
»Könnte das sein?«, wiederholte ich und fing ganz albern an zu lachen. »Dass wir zusammen zur Grundschule gegangen sind und du . . .«
Lucian sah an mir vorbei, erstarrte. Dieses Mal drehte ich mich ganz langsam um in der Hoffnung, dass meine Befürchtung sich dadurch in Luft auflösen würde. Aber so war es nicht. Suse hatte mich gefunden. Sie stand in der Balkontür und ihr entsetzter Blick machte deutlich, dass sie Lucian erkannte. Wer mich irritierte, war der Typ indem Kaninchenkostüm. Er drängte sich hinter Suse hervor und jetzt riss er sich die Kopfbedeckung herunter.
Zum Vorschein kam Sebastian.
Ich fühlte mich, als ob mir jemand in den Magen geboxt hatte. »Was machst du hier?«, presste ich hervor.
Sebastian lachte, es sollte wohl hämisch klingen, aber es hörte sich kläglich an. Sein Gesicht war rot und verschwitzt. Das Haar klebte ihm an der Stirn. Er sah total grotesk aus in dem weißen Plüschkostüm und furchtbar verletzt.
»Das frag ich mich auch«, sagte er. »Ich konnte ja nicht wissen, dass du schon einen anderen Spielgefährten zum Verstecken gefunden hast.« Sebastian sah von Lucian zu mir. »Mach es nicht kaputt, hm? Gib mir noch ein bisschen Zeit. Scheiße, Rebecca! Für wen hältst du mich? Für einen Vollidioten?«
»Nein«, murmelte ich betroffen. »Sebastian, bitte. Ich kann dir das erklären!«
Sebastian schüttelte den Kopf und machte einen Satz nach vorn. Ehe Lucian sich ducken konnte, hatte ihm Sebastian die Maske vom Gesicht gerissen. Dann drehte er sich zu Suse um, die bis jetzt wie versteinert dagestanden hatte. »Ist er das?«
Suses Augen streiften mich. Bitte, flehte ich stumm. Bitte, tu das nicht.
»Ja«, sagte sie. »Das ist der Psycho, der Rebecca überallhin verfolgt.«
Neben mir schnappte Lucian scharf nach Luft. Seine Hand lag auf der Brüstung, und für einen Moment hatte ich furchtbare Angst, er würde sich hinabstürzen.
Sebastian ballte seine Hände zu Fäusten.
»Nicht«, schrie ich und wollte mich zwischen die beiden drängen. Aber Sebastian drückte mich weg.
Er tippte Lucian auf die Brust. »Es sollte mir eigentlich egal sein.« Er konnte sich kaum beherrschen. »Aber das ist es nicht. Was ich dir jetzt sage, sage ich nur einmal: Lass Rebecca in Ruhe. Lass dich nie wieder in ihrer Nähe blicken. Sonst rufe ich die Polizei. Hast du mich verstanden?«
Lucian nickte. »Klar und deutlich«, entgegnete er. »Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet?«
Mit diesen Worten nahm er Sebastian seine Maske aus der Hand, glitt an ihm vorbei zur Tür und war weg.
Ich stand da wie angewurzelt.
Suse kam auf mich zu. »Becky«, sagte sie. »Sei nicht böse, bitte, auch nicht auf Sebastian. Wir machen uns Sorgen. Wir wollten dir nur helfen.«
Ich antwortete ihr nicht, sondern ließ sie einfach stehen und lief los.
Draußen vor dem Bunker, in einer schimmernden Pfütze, lag Lucians Vogelmaske. Von ihm selbst war keine Spur zu sehen.
ZEHN
Die Amsel war zu dick für den Zweig. Sie hatte sich darauf niedergelassen, flatterte erschrocken, als er unter ihr wegknickte, fing sich dann aber wieder und arbeitete sich in emsigen Trippelschritten nach oben, zu einer bruchfesteren Stelle. Dort angekommen, legte sie ihren Kopf schief und blickte durch die schlierige Fensterscheibe zu mir herüber. Im nächsten Moment hob sie ihre
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