Lucian
konnte nicht aufhören, ihn anzusehen.
Er sah so unheimlich aus. Aufregend. Schön. Mit der Maske auf seinem Gesicht kam es mir noch stärker vor, als wäre er mein Geheimnis.
»Du bist nicht alleine hier«, sagte er. »Stimmt’s?«
Ich nickte, mein Blick glitt an ihm herab. Die Federn flatterten im Wind, ein paar von ihnen lösten sich und schwebten über die Brüstung der Dachterrasse in die Nacht hinaus wie Schneeflocken. Ich sah ihnen nach, wie sie davonsegelten, bis sie nur noch winzige Punkte waren und sich mit der Nacht verloren.
Unter uns verlief die Straße mit Blick zum Heiligengeistfeld, Sankt Pauli und dem Millerntorstadion, wo nächste Woche wieder der Dom aufgebaut werden würde. Bei unseren früheren Begegnungen war mir Lucian immer unwirklich erschienen, jetzt war es umgekehrt. Alles andere kam mir plötzlich nicht real vor, nur er war Wirklichkeit.
»Hast du Ärger gekriegt neulich Nacht?«, fragte er.
Ich nickte. »Meine Mutter hat mir den ersten Hausarrest meines Lebens verpasst.« Die Ohrfeige behielt ich für mich.
»Oh.« Er lehnte sich an die Brüstung.
»Und du?«, fragte ich. »Wie hast du die letzten Wochen verbracht?«
»Ohne dich.« Lucian legte den Kopf schief. Unter der Maske verzog sich sein Mund zu einem Lächeln und ich entdeckte das Grübchen inseiner Wange. »Aber zumindest ist mir der Hausarrest erspart geblieben.«
»Das ist natürlich ein schlagender Vorteil.« Ich lachte, aber gleich darauf wurde ich wieder ernst. »Hast du denn . . . eine Wohnung? Ein Zimmer? Wovon lebst du? Wo schläfst du?«
Lucian zögerte. »Bei jemandem.«
Seine Worte ließen mich zusammenzucken.
»Tu das nicht«, sagte ich und wusste, dass ich es nicht ertragen konnte, wenn er jetzt wieder anfing, in Rätseln zu sprechen.
Lucian griff in seine Manteltasche und zog eine Packung Zigaretten heraus. Er zündete sich eine an, inhalierte, lange und tief, dann blies er den Rauch aus. Der weiße Qualm umnebelte seine Maske.
»Ich glaube nicht, dass ich Raucher war«, sagte er. »Die Erste hat scheußlich geschmeckt. Aber man gewöhnt sich dran. Rauchst du?«
Stumm schüttelte ich den Kopf.
Lucian nahm zwei weitere Züge. »Ich hab da so einen Typen kennengelernt«, sagte er. »Er hat mir ein Zimmer gegeben und einen Job vermittelt.«
»Einen Job? Als was?«
Lucian schnippte die Asche von seiner Zigarette. »In einer Bar. Sauber machen, Bierfässer schleppen, einkaufen, renovieren. Solche Sachen.«
Ich fühlte die Enttäuschung in mir emporkriechen. Warum ging er wieder auf Distanz? Warum vertraute er mir nicht?
»Eine Bar«, sagte ich langsam. »Ein Typ, ein Zimmer. Und das ist alles?«
»Hör zu . . .« Lucian nahm die Zigarette zwischen Daumen und Mittelfinger und schnippte sie über das Balkongitter. »Ich weiß nicht, ob das gut ist.«
Ich zog die Brauen zusammen. »Ob was gut ist?«
»Das hier.« Lucian wandte den Kopf von mir ab. »Das mit uns.« Jetzt klang seine Stimme schroff.
Wie bitte? Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Seine Worte schraubten sich in meinen Kopf und im nächsten Moment waren alle Ängste der letzten Wochen wieder da. Hier stand ich, mit meinen blödsinnig zitternden Knien, diesem ätzenden Gefühl in der Brust, und fragte mich, wie lange ich dieses Komm-her-geh-weg-Spiel noch mitmachen wollte.
»Ach ja?« Ich versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. »Das klang eben aber noch ganz anders.«
Lucians Augen bewegten sich hinter den schmalen Schlitzen der Maske, ich sah das Weiß seiner Augäpfel und fühlte mich wie betäubt.
»Rebecca, ich . . . « Lucian räusperte sich. »Ich habe Angst, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Es ist nicht gut, wenn du zu viel weißt. Es ist . . . es ist wahrscheinlich nicht mal gut, dass wir uns sehen.«
»Warum?« Ich schrie es fast. »Warum tun wir es dann?«
Lucian hob die Schultern, senkte sie wieder, aber es sah nicht aus wie ein Achselzucken, sondern vielmehr wie eine hilflose Geste. »Wir tun, was wir nicht lassen können, schätze ich«, sagte er leise.
Ich ließ die Schultern sinken. Ich war erschöpft.
»Hör zu, Lucian«, sagte ich. »Ich kann das nicht aushalten. Du tauchst in meinem Leben auf, bringst alles durcheinander – und dann lässt du mich im Dunkeln tappen. Das bringt mich in Schwierigkeiten. Ich habe die letzten Wochen nicht aufhören können, an dich zu denken. Ich habe mir Sorgen gemacht, ich will dich . . . ach, verdammt, lassen wir das! Aber wenn ich schon nichts über
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