Lucifer - Traeger des Lichts
langer Zeit erkannte, dass man, wenn man an einer Stelle blieb, zusehen konnte, wie die Welt sich um einen herum veränderte. Sie fand diese allmähliche Veränderung interessanter, als entwurzelt und unstet umherzuwandern. Mascha hatte die Revolution von 1917 ausgesessen, den zweiten Weltkrieg, das Ende des sowjetischen Kommunismus. Sie hatte Bauwerke wachsen und einstürzen sehen, kannte jeden, der jemals durch die kleine Straße vor ihrer Wohnung gekommen war, und hatte selbst das Undenkbare getan - einen irdischen Teilzeitjob angenommen. Zwei Abende die Woche war sie Platzanweiserin im Theater, und das war etwas, was sie liebte. Nicht nur gab es dort einen endlosen Zug menschlichen Lebens, wenn die Besucher kamen und gingen. Unter dem Deckmantel einer nicht ganz irdischen Illusion war sie in der Lage gewesen, fast jede Vorstellung zu sehen.
Mascha hatte, wie manche mit einer gewissen Abscheu kundtaten, eine Schwäche für Sterbliche.
Sie wohnte in einem kleinen Apartmenthaus an einer Straße, auf der nie mehr als zwei oder drei schrottreife Fahrzeuge pro Stunde vorüberfuhren. So war sie eines Abends überrascht, als ein neues Auto, ein rotes, unter einer Straßenlaterne vorfuhr und einen Passagier ausspuckte. Sein Gesicht war unter einem großen Hut verborgen, und als ihr suchender Geist ihn berührte, war da ... nichts. Kein Schimmer von Macht, ob sterblich, unsterblich oder elfisch, aber auch nicht das offene Buch, das die meisten Sterblichen darstellten. Nur Leere.
Sie beobachtete, wie die seltsame Gestalt auf das Hochhaus zukam, wobei sie sich immer in den Schatten hielt. Sah, wie der Schattenmann sich über ihren Wagen beugte und ihn studierte, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er auf etwas. Er richtete sich wieder auf und blickte hoch, direkt auf ihr Fenster. Sie wich instinktiv zurück und zog die Vorhänge zu. Dann schalt sie sich selbst eine Närrin. Sie öffnete die Vorhänge wieder einen Spalt weit und spähte auf die dunkle Straße hinunter, aber der Mann war fort
Verschreckte Leute tun ihre Ängste oft als eingebildet ab, und genau das tat Mascha nun. Sie ging zurück in die Küche ihrer engen Wohnung, nahm sich das Buch, in dem sie gelesen hatte, und machte es sich vor dem kleinen Gasofen zu einem angenehmen Abend mit ihrem neuesten Hobby bequem -menschlicher Literatur.
Es klopfte an der Tür. Mascha sprang auf. Einen kurzen Moment überlegte sie, was sie tun sollte; dann siegte ihre Neugierde über die Furchtsamkeit. An der Tür spähte sie durch das Guckloch. Ein Mann in einem langen schwarzen Mantel stand im Flur, mit dem Rücken zur Tür, den Kopf abgewandt, als beobachte er das Treppenhaus.
Sie öffnete die Tür - und wusste nicht, wie ihr geschah. Eine Sekunde zuvor hatte der Fremde noch ausgesehen wie ein verirrter Besucher, in der nächsten war sein Fuß in der Tür, und sein Gesicht war verzerrt von einem Ausdruck solch gnadenloser Entschlossenheit, dass sie entsetzt zurücktaumelte.
In betäubtem Schweigen nahm sie die schwarze Kleidung, die schwarzen Augen, das schwarze Haar und den finsteren Ausdruck im Gesicht des Mannes wahr, den sie in den Tod zu fuhren versucht hatte. Dann kreischte sie los und hob ihre Hände zu einem Abwehrzauber. Ihr Element kam ihr zu Hilfe: Eine Wasserkugel floss aus ihren Händen hervor und legte sich um Sams Mund und Nase - doch er schüttelte einfach den Kopf, und die Kugel zerplatzte.
Wie Wisperwind den Nebel beherrschte, so beherrschte sie das Wasser, und die Leichtigkeit, mit der er ihren einzigen guten Zauber zunichte gemacht hatte, ließ ihr vor Schrecken übel werden. Sie schrie lauter, als er hereinstürmte und die Tür mit dem Fuß hinter sich zuwarf. Mit einem Griff hatte er sie am Arm gepackt und stieß sie in den nächsten Raum, das Bad. Sie trat und schlug um sich, doch er war stärker als sie, warf sie auf den Boden, umschloss ihre Knie mit seinen eigenen und presste ihr die Arme an die Seiten.
Ein Dolch war an ihrer Kehle. Sie wusste, es war sein Dolch, jene Art von Waffe, die imstande war, jedes Leben zu beenden, auch das eines Wesens der Anderwelt.
»Sei still!«, schrie er ihr ins Ohr.
»Sie haben mich gezwungen!«, heulte sie. »Ich hatte keine andere Wahl!«
Er musste sie geschlagen haben, denn sie erinnerte sich an
Schmerz, wirklichen Schmerz, zugefügt mit einer Präzision, die ein bloßer Sterblicher nie zuwege gebracht hätte. Sam wusste, wo und wie man Elfen und Feen weh tat.
»Wohin hat man sie gebracht? Wo ist
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