Lucy in the Sky
er mir deshalb lieber kurze Nachrichten schickt, als sich persönlich mit mir zu unterhalten.
Aber er kommt ja nicht meinetwegen nach England, er will hier arbeiten, sage ich mir immer wieder. Wie arrogant von mir, anzunehmen, seine Entscheidung könnte etwas mit mir zu tun haben. Womöglich hat er sich zu Hause in Australien längst in die nächste Amy verliebt. Vielleicht hat er deswegen nicht angerufen. Vielleicht ist er todtraurig, weil er sie verlassen muss, um für drei Monate auf die andere Seite des Erdballs zu fliegen. Jetzt fühle ich mich total schlecht. Hoffentlich ist das nicht wahr …
In der Woche vor seiner Ankunft bin ich nervös.
»Fährst du zum Flughafen?«, flüstert Chloe mir verstohlen zu, als Gemma am Freitag kurz von ihrem Schreibtisch verschwindet.
»Ja«, flüstere ich zurück, und sie macht große Augen.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, erkläre ich gereizt. »Ich möchte nur nicht, dass er hier landet und sich total verloren fühlt.«
»Ich dachte, er kommt zusammen mit einem Freund hierher«, erwidert sie.
»Ja, mit Richard«, bestätige ich. »Aber der ist schon seit ein paar Wochen hier und ist etwas in Europa rumgereist. Nathan musste noch das Haus fertig kriegen.«
»Was für ein Haus?«, will sie wissen, und ich informiere sie schnell über Nathans Renovierungen, bevor Gemma zurückkommt. Davon zu erzählen macht mich richtig stolz, und ein paar Schmetterlinge flattern durch meinen Bauch. Ich stutze ihre Flügel. Ständig höre ich Mums Warnung:
Es könnte unangenehm werden … Sei vorsichtig …
Am Freitagabend gehe ich nicht aus. Nathans Flieger landet am nächsten Morgen um sechs Uhr früh, eine gottlose Zeit, also muss ich spätestens um halb sieben in Heathrow sein. Als James spätabends heimkommt, bin ich längst im Bett, aber ich höre ihn in der Dunkelheit herumrumoren, stolpern und fluchen, als er sich den Zeh am Bett stößt. Ich rühre mich nicht, obwohl ich nicht schlafen kann. Um genug Zeit zu haben, aufzustehen, mich anzuziehen, ein Taxi nach Paddington zu nehmen und in den Heathrow Express zu springen, habe ich den Wecker auf fünf Uhr gestellt. Doch um halb fünf stehe ich nach gerade mal zwei Stunden Schlaf auf und benutzte die Extrazeit dafür, mit einer dicken Schicht Concealer die Ringe unter meinen Augen wegzuschminken. Ich bemühe mich, leise zu sein, aber James hört sowieso nichts, er schläft wie ein Stein.
Meine Klamotten habe ich schon gestern Abend rausgelegt: Dunkelblaue Jeans und einen eng anliegenden grünlichbronzefarbenen Pulli, der die Bernsteinflecken in meinen Augen zum Leuchten bringt.
Als ich um zwanzig nach sechs am Flughafen komme, ist Nathans Maschine schon gelandet. Ich warte hinter der Absperrung und beobachte, wie die eingetroffenen Passagiere in die Ankunftshalle strömen. Aber nach ein paar Minuten werde ich unruhig und beschließe, mir einen Kakao zu holen. Leider gibt es eine Schlange, und ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen, während ich die Schiebetür im Auge zu behalten versuche. Ich bin höllisch aufgeregt. Schließlich gehe ich mit meinem Getränk zur Absperrung zurück. Neben mir halten die Minicabfahrer ihre Schilder in die Höhe. Gerade als ich anfange, mir Sorgen zu machen, ob ich Nathan womöglich verpasst habe, geht die Tür auf, und da ist er.
Er sieht anders aus, irgendwie fremd. Während er die Augen suchend über die Menge gleiten lässt, beobachte ich ihn genau. Er trägt einen ausgewaschenen grünen Kapuzenpulli und eine beigefarbene Cordhose, über seiner Schulter hängt ein schwarzer Gitarrenkasten, und er zieht einen großen Koffer hinter sich her. Schließlich entdeckt er mich und grinst breit. Mein Magen gerät völlig außer Rand und Band.
Ich hatte ganz vergessen, wie groß er ist. Noch immer trägt er seinen Dreitagebart, und seine dunklen Haare sind sogar noch etwas länger als damals.
»Hallo, du.« Er lächelt und beugt sich zu mir, um mich auf die Wange zu küssen. Dann stellt er Koffer und Gitarre hin und sagt zärtlich: »Komm her!« Er schlingt die Arme um mich und drückt mich für ein paar Sekunden an sich. Ich atme seinen Geruch ein. Erinnerungen überfluten mich. Er riecht vertraut, aber es ist nicht sein Aftershave, denn er benutzt keins – er riecht einfach nach Nathan. Plötzlich will ich ihn gar nicht mehr loslassen. Ich schließe die Augen, und all der Widerstand, all die Barrieren und Hindernisse, die ich in mir aufgebaut hatte, sind in einer Nanosekunde
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