Lucy in the Sky
Sekunde sieht Nathan mich an, aber dann trinkt er einen Schluck Bier und geht zurück an den Tresen. Ich versuche meine Enttäuschung zu verbergen. Unsere Vertrautheit ist verschwunden. Aber eigentlich sollte ich mich vor allem erleichtert fühlen, weil James seine Eifersucht überwunden zu haben scheint.
»Das war okay, oder nicht?«, sagt James im Taxi, das wir uns auf meinen Wunsch hin geleistet haben.
»Gefällt er dir?«, frage ich leichthin.
»Ja, er ist in Ordnung.« Er grinst.
»Was denn?«
»Du findest ihn doch nicht wirklich toll, oder?«, fragt er mit einer Mischung aus Überraschung und mildem Ekel. »Wenn es Richard wäre, würde ich es ja noch verstehen, der ist witzig, aber dieser Nathan ist schon ein bisschen seltsam. Hat jedenfalls nicht viel zu sagen, oder?«
Ich ringe mir ein Lachen ab. »Nein, echt nicht.«
Wenigstens hat James offenbar nicht das Bedürfnis, mich über unsere langen Telefongespräche auszufragen. Denn Nathan hat sehr wohl viel zu sagen. Er hat
mir
viel zu sagen.
Aber es ist in Ordnung. James muss Nathan nicht mögen. Wahrscheinlich ist es sogar besser so.
»Und, wie war es denn?«, fragt Chloe ganz aufgeregt, als ich am Montagmorgen zur Arbeit erscheine. Gemma rutscht mit ihrem Stuhl zu uns rüber und ist ganz Ohr.
»Gut«, antworte ich wortkarg.
»Gut?«, wiederholt Chloe enttäuscht. »Was denn, keine Faustkämpfe, keine zerbrochenen Flaschen, nichts?«
»Ach hör auf!«, lache ich. »Nein, es war gut. Sie sind gut miteinander ausgekommen.«
Es war wirklich gut. Wahrscheinlich hat dazu auch beigetragen, dass Nathan so auf Distanz zu mir gegangen ist. Ich muss anfangen, unsere Freundschaft platonisch zu sehen.
Das ist jetzt die Realität.
»Wie langweilig!«, gähnt Chloe.
»Hey!«, fauche ich sie im Scherz an.
»Sorry, ich hab meine eigene öde Existenz so satt. Wann gehen wir mal wieder mit James aus?«, fragt sie.
»Hast du immer noch Lust dazu?« Ich grinse. Offensichtlich ist sie über die Sache mit Bryce weg. Dieser blöde Kanadier, der mit ihr geknutscht und dann nie angerufen hat.
»Ja, ich würde William gern ein bisschen besser kennenlernen.«
»Das ist genau die richtige Einstellung!«, lache ich. Ja, der Abend damals hat wirklich Spaß gemacht. Ich verspreche ihr, bald wieder einen Abend zu arrangieren.
Auch Karen und Reena rufen mich in dieser Woche an, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. Natürlich reagieren beide wieder mal vollkommen gegensätzlich. Zuerst spreche ich mit Reena, die es offensichtlich gut findet, dass ich einen Entschluss gefasst habe und in Nathan einen platonischen Freund sehen möchte. Karen hingegen erklärt mir, dass ich mich anhöre wie die Moderatorin eines Kindersenders, und dass sie denkt, ich mache mir gewaltig was vor.
»Ach, lass mich in Ruhe!« Ich lache gereizt.
»Komm schon, Lucy. Als du ihn das erste Mal wiedergesehen hast, wolltest du ihm da an die Wäsche oder nicht?«
»Sei still!«, weise ich sie empört zurecht. Ich habe Mittagspause und sitze auf dem Soho Square. Aus meinem Handy dringt Karens heiseres Yorkshire-Lachen. Aber dann wird sie wieder ernst. »Ich weiß auch nicht, warum ich dich damit aufziehe. Du weißt ja, dass ich das alles nicht gut finde.«
»Na, dann solltest du mich doch unterstützen, wenn ich mich bemühe, die Sache mit Nathan platonisch zu sehen, und mir nicht vorwerfen, dass ich im La-la-Land lebe.«
»Ja, ja, wie auch immer. Wann lerne ich den Surfer denn endlich mal kennen?«
»Tja, vielleicht früher, als du denkst … «
Am Freitag ist mein sechsundzwanzigster Geburtstag. Karen und Alan, Reena und Paul, Gemma und Martin, alle kommen abends nach Marylebone. Gestern hat James sogar selbst vorgeschlagen, ich könnte doch auch Richard und Nathan einladen, was ich allerdings längst getan hatte.
Während meine Freundinnen es kaum abwarten können, Nathan endlich kennenzulernen, macht mir die Vorstellung, dass sie alle zusammenkommen, eine Höllenangst. Ich kann nur hoffen, dass niemandem eine unpassende Bemerkung rausrutscht, und versuche, meine Nervosität in Grenzen zu halten. Gut, ich werde Nathan wiedersehen. Natürlich benimmt er sich mir gegenüber in einer größeren Gruppe anders, als wenn ich mit ihm alleine bin. Aber was, wenn er so distanziert ist, dass meine Freundinnen sich wundern, was das ganze Theater überhaupt soll? Eigentlich dürfte mir das nichts ausmachen, weil ich ja über ihn wegkommen will, aber es macht mir was aus. Natürlich macht es mir was
Weitere Kostenlose Bücher