Lucy in the Sky
Nathan steht bereits auf und streckt mir seine Hand entgegen. Ich nehme sie. Sie ist rau, stelle ich fest, während ich sie eine Sekunde länger als nötig festhalte. In der Dunkelheit treffen sich unsere Blicke, aber ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Und ich bin froh, dass er nicht sieht, wie ich rot werde.
Kapitel 3
Ich hab einen Mordskater, außerdem kaum geschlafen, und meine Augen fühlen sich an, als hätte ich sie mit Essig ausgewaschen. Aber trotz allem schwebe ich auf Wolken und denke ununterbrochen an Nathan. In meinem Kopf ist kein Platz für James. Meinetwegen kann er mit einem ganzen Flugzeug voller Stewardessen schlafen – ich möchte immer nur an den attraktiven Surfer mit den zerzausten Haaren denken.
Allerdings musste ich heute Morgen mit großer Enttäuschung feststellen, dass er nicht am Frühstückstisch saß, wie ich es mir erhofft hatte.
»Wo ist Nathan?«, erkundigte ich mich bei Molly.
»Vermutlich ist er schon in aller Herrgottsfrühe los«, antwortete sie leichthin.
Aber wir hatten ja fast bis gerade eben noch zusammen draußen unter den Sternen gesessen, also war ich mir ziemlich sicher, dass er noch da sein musste.
»Wann seid ihr denn schlafen gegangen?«, wollte Molly noch wissen.
»Oh, das weiß ich auch nicht so genau. Nicht lange, nachdem ihr ins Bett seid, glaube ich.«
Warum erzähle ich ihr nicht, dass wir uns bis um vier unterhalten haben? Weil ich finde, dass das etwas ist, was nur Nathan und mich etwas angeht.
Ich behalte mein Handy im Blick, falls er anruft und mich zum Surfen einladen will, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass er meine Nummer nicht kennt. Ich wünschte, wir hätten uns gleich fest verabredet. Sicher, wir haben gesagt, wir würden uns heute treffen, aber jetzt erscheint mir der Gedanke, dass wir allein am Strand entlanggehen, schon ganz irreal. Ob er sich überhaupt daran erinnert? Schließlich haben wir ganz schön viel getrunken.
Nachmittags gehe ich ein paar Stunden mit Molly in den Laden. Jedes Mal, wenn das Glöckchen ertönt, um einen Kunden anzukündigen, tut mir der Kopf weh, und die schnulzige R&B-Musik macht die Sache auch nicht besser. Zum Glück ist Mollys Chefin heute nicht da. Ich bin nicht sicher, ob sie es gut finden würde, dass ihre Kunden den Anblick einer jungen Frau ertragen müssen, die mit grünem Gesicht links neben der Kasse kauert.
»Du bist heute ziemlich still«, stellt Molly fest. »Machst du dir immer noch Sorgen wegen James?«
»O nein, seinetwegen mach ich mir keine Sorgen«, wiegle ich ab, vielleicht ein wenig zu hastig. Über ihr Gesicht zieht ein Ausdruck, den ich nicht entschlüsseln kann. »Ich meine, ich vermisse ihn schon. Aber vor allem bin ich total verkatert«, ächze ich, und sie lächelt seltsam, lässt die Sache aber auf sich beruhen.
Um die Wahrheit zu sagen, möchte ich gerade auch gar nicht plaudern, weil ich so damit beschäftigt bin, im Kopf immer wieder mein Gespräch mit Nathan durchzugehen. Ich hätte ohne weiteres bis zum Sonnenaufgang mit ihm auf der Veranda sitzen und reden können.
Als er ins Bett gegangen ist, habe ich ihn seufzen hören, und das war wirklich herzzerreißend. Dieses Haus, das immer sein Rückzugsort war, ist jetzt für B &B-Gäste hergerichtet. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein muss, mit fünfzehn seine Eltern zu verlieren. Mir tut es immer noch leid, dass ich nicht für Sam da gewesen bin, als der Unfall passierte. Aber Sam hatte wenigstens Molly. Ganz schön egoistisch von mir, dass ich damals eifersüchtig auf sie war, aber wahrscheinlich haben die beiden damals begriffen, wie viel ihnen ihre Beziehung bedeutet.
Am frühen Abend holt mich die Müdigkeit endgültig ein, und ich sage Molly und Sam, dass der Jetlag wieder zuschlägt und ich ins Bett muss. Womöglich sehe ich Nathan vor der Hochzeit in neun Tagen nicht mehr, und ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll. Aber ich frage mich auch, ob sich diese absurde Verliebtheit bis morgen früh vielleicht wieder verflüchtigt hat.
Kurz nachdem ich eingeschlafen bin, piepst mein Handy, ich werde sofort wach und schaue nach, weil ich denke, es könnte Nathan sein. Aber es ist bloß eine SMS von James. Ich fühle mich albern und bin enttäuscht. James möchte, dass ich ihn anrufe, aber dazu habe ich überhaupt keine Lust. Das Gespräch gestern mit Nathan über seine »Geschichten« macht mir ziemlich zu schaffen. Mein Unbehagen wächst, statt zu schrumpfen, und ich kann
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