Lucy in the Sky
«
Auf einmal bin ich total niedergeschlagen. Wenn du mir das Surfen beibringst, würde ich den Rest meiner Ferien nichts anderes mehr tun. Aber natürlich hat Nathan etwas Besseres vor. Einen schrecklichen Moment schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich für ihn womöglich so eine Art große Schwester bin. Es besteht eine sehr reale Möglichkeit, dass er sich angewidert zurückziehen würde, wenn er wüsste, was ich über ihn denke.
»Bist du bereit?«, fragt er und reißt mich aus meinen bösen Gedanken. Inzwischen sind wir am Wasser, und er legt seinen Knöchelriemen an. Sein Surfbrett ist groß, größer als er.
Ich stoße unwillkürlich einen Schrei aus, als eine Welle gegen meine Füße klatscht. »Das Wasser ist ja eiskalt!«
Nathan lacht. »Willst du lieber die nächste abwarten?«
»Ja, ich denke schon.«
Ich gehe ein Stück zurück und sehe zu, wie er ins Wasser marschiert, sich auf seinem Brett vom Ufer wegschiebt, sich dann bäuchlings darauf legt und mit den Armen paddelt. Als eine Welle auf ihn zurollt, duckt er sich und manövriert sein Brett mittendurch, bis er auf der anderen Seite wieder herauskommt und weiterpaddelt.
Kurz darauf richtet er sich mühelos auf, sitzt eine Weile rittlings auf dem auf und ab hüpfenden Brett, bis eine anständige Welle kommt. Jetzt wirft er sein Brett herum und fängt an, wie wild aufs Ufer zuzupaddeln. Dann plötzlich steht er auf, das Surfbrett schießt fast vertikal empor, ehe es sich wieder absenkt und den Wellenkamm durchschneidet. So surft er in Richtung Küste, steht einen Moment ganz aufrecht und lässt sich dann langsam ins Wasser hinuntersinken.
»Fertig?«, ruft er und streicht sich die knapp kinnlangen nassen Haare aus den Augen. Gott, das ist unglaublich.
Ich nicke wortlos.
»Gut, wir gehen auch nicht so weit raus. An diesem Ende des Strands sind die Wellen nicht besonders hoch, aber du kannst schnell eine halbwegs anständige erwischen.«
Zuerst ist es immer noch irre kalt, aber bald erwärmt sich das Wasser in meinem Neoprenanzug auf Körpertemperatur, und ich höre auf zu frieren. Seite an Seite paddeln wir aufs Meer hinaus, Nathan ganz offensichtlich langsamer als sonst. Schließlich finde ich, dass wir weit genug draußen sind, und Nathan scheint derselben Ansicht zu sein. Er richtet sich auf und setzt sich wieder rittlings auf sein Brett. Ich bleibe flach auf meinem liegen, denn ich habe nicht vor zu versuchen, auf dem Ding zu balancieren. Dann wenden wir uns beide dem Ufer zu.
»Gut, du zuerst, ich folge dir«, sagt er.
»Aber schau mir nicht zu«, bettle ich wie ein verlegener Teenager.
»Warum denn nicht?«, lacht er.
»Könnte sein, dass ich mit meinem breiten Hintern Amys Anzug sprenge.«
»Du hast aber gar keinen breiten Hintern.« Er grinst. »Der Anzug sitzt perfekt.«
Hmm, wenn Amy und ich schon dieselbe Größe haben, vergleicht er uns womöglich noch in anderen Punkten?
»Hat sie dich gefragt, wo du die letzte Nacht warst?«, erkundige ich mich.
»Ja.« Pause. »Ich hab deswegen sogar ziemlichen Ärger gekriegt.«
»Echt?« Ich versuche zu lachen und die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. »Hast du ihr gesagt, dass du dich bis vier Uhr morgens mit mir unterhalten hast?«
»Nein. Sie wäre bloß eifersüchtig geworden.« Aha! Ist ja toll, denke ich. Dann komme ich mir sofort gemein vor. »Sie ist nicht meine Freundin«, erinnert er mich und hält meinem Blick stand. Schließlich reiße ich mich los.
»Also, soll ich den Anfang machen?«
Er sieht zu den Wellen zurück. »Nein, nimm nicht diese hier, warte lieber auf die nächste.«
Die Welle gewinnt an Kraft, und ich erwische sie, gerade als sie bricht und mich schnell und heftig zum Ufer zurückträgt. Ich gleite den ganzen Weg bis in den Sand, und auf einmal kann ich gar nicht mehr aufhören zu lachen. Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß das Wellenreiten macht! Energisch streiche ich mir die patschnassen Haare aus der Stirn und schaue mich nach Nathan um. Er ist noch draußen und beobachtet mich. Ich winke, er winkt zurück und sieht sich dann nach der nächsten Welle um.
Jetzt, wo die Sonne höher steigt, kommen immer mehr Surfer zum anderen Ende des Strands. Nathan und ich bleiben eine Weile draußen, treffen uns manchmal in der Mitte, manchmal nicht. Hoffentlich sehe ich mit meinen nassen, salzigen Haaren nicht zu schrecklich aus.
Allmählich werden meine Arme müde, und wir einigen uns, noch eine letzte Runde zu machen. Ich frage mich, wie
Weitere Kostenlose Bücher