Lucy in the Sky
Infoplakette:
Bambusa vulgaris – Gemeiner Bambus
»Wie nennt man ein Schaf ohne Beine?«
Ich wirble herum, und da steht er hinter mir, eine unangezündete Zigarette zwischen den Lippen. Er hat sein Jackett ausgezogen, die Krawatte gelockert und den obersten Hemdenknopf gelöst.
»Wie denn?«, frage ich mit einem Lächeln.
»Schäfchenwolke.«
»Das ist lustig!«
»Ja, den hatte ich ganz vergessen«, sagt er und zündet sich die Zigarette an. Er benutzt Streichhölzer, kein Feuerzeug, und er muss die Hand davorhalten, damit der Wind die Flamme nicht ausbläst.
»Wie geht’s Amy?«
»Nicht so gut.« Er gräbt mit der Schuhspitze im Kies.
»Was ist denn los mit ihr?«
»Sie möchte wissen, woran sie mit mir ist. Sie möchte wissen, was ich empfinde.«
»Und was empfindest du?«
Bevor er antwortet, nimmt er einen langen Zug an der Zigarette. »Ich glaube nicht, dass sie die Richtige für mich ist.« Dann sieht er mich plötzlich durchdringend an. Und schaut wieder weg.
»Das musst du ihr sagen.«
»Ich weiß.«
Bin ich vielleicht die Richtige für ihn? Wir sind so verschieden. Je besser ich Nathan kennenlerne, desto klarer wird mir, wie wenig wir gemeinsam haben. Bin ich zu alt für ihn? Ich war auf der Uni, und er hat kaum die Highschool zu Ende gebracht. Ich habe einen Beruf, den ich liebe. Ich liebe meinen Job wirklich, denke ich. Ich habe den besten Job der Welt! Was würde ich tun, wenn ich hier wäre? Hier ist es viel schwerer, gute Arbeit zu finden.
Die Gedanken, die mir durch den Kopf rasen, teile ich ihm nicht mit. Ich weiß ja noch nicht mal, was er eigentlich von mir hält.
»Freust du dich, dass du morgen nach England zurückfliegst?«, fragt er schließlich.
»Nein, nicht besonders«, antworte ich.
»Wie fühlst du dich bei dem Gedanken, deinen Freund wiederzusehen?« Mit seinen blaugrauen Augen starrt er mich unverwandt an.
»Nicht so gut. Ich weiß es einfach nicht.« Ich sehe weg, weil mir sein Blick zu intensiv wird. Dann wende ich mich ihm abrupt wieder zu. »Wie kannst du es dir leisten, nicht zu arbeiten?«
»Na ja, das Haus gehört zur Hälfte mir, weißt du.«
Aus irgendeinem Grund habe ich angenommen, dass Molly und Sam das Haus jetzt besitzen. Aber natürlich hat Nathan die Hälfte geerbt.
»Haben die beiden dich ausbezahlt?«
»Nein«, entgegnet er rasch. »Ich brauche das ganze Geld nicht, und sie könnten es sich auch gar nicht leisten. Sie zahlen Miete an mich und geben mir einen Teil des Geldes, das sie mit dem Bed and Breakfast verdienen. Vielleicht verkaufen wir das Haus eines Tages, wer weiß. Aber jetzt noch nicht.«
»Möchtest du denn keinen Job haben?«, hake ich nach. Die Tatsache, dass er nicht arbeitet, macht mir zu schaffen.
»Ich weiß nicht, was ich tun könnte.«
»Ist irgendwas nicht besser als gar nichts?«
»Du nimmst mich auf den Arm, oder?«
»Na ja … ich meine … Denkst du nicht, deine Eltern hätten gewollt, dass du einen richtigen Beruf ausübst?«
Seine Augen werden hart. Ich bin zu weit gegangen.
»Tut mir leid, das war hart.«
Aber seine Erwiderung überrascht mich. »Nein, du hast recht. Sie wären vermutlich ziemlich enttäuscht von mir.«
»Das hab ich nicht gemeint!« Ich bin entsetzt.
»Doch, das wären sie«, beharrt er. »Aber auf Sam wären sie total stolz. Er war auf der Uni, hat seinen Abschluss gemacht und kommt in seinem Job voran. Ich hab die letzten Jahre nur mit Surfen und Rumhängen verbracht und von den Einnahmen mit dem Haus gelebt. Ich glaube nicht, dass sie darauf stolz wären.« Er inhaliert noch einmal lang und tief, dann lässt er die Kippe fallen und zertritt sie mit seinem nicht sonderlich fachmännisch geputzten Schuh.
Sofort spüre ich einen leidenschaftlichen Beschützerinstinkt.
»O doch, deine Eltern wären stolz auf dich. Du bist ein talentierter Musiker, ein unglaublicher Surfer, und außerdem der netteste, einfühlsamste Mann, dem ich jemals begegnet bin.« Ich ergreife seine Hände und halte sie fest. »Es spielt keine Rolle, dass du noch nicht herausgefunden hast, was du mal machen möchtest. Aber das wirst du schon noch, du hast Zeit.«
Einen Moment betrachtet er mich schweigend. Dann entzieht er mir eine Hand und legt sie an meine Wange. Sein Daumen ist rau, als er die Träne wegwischt, die über meine Wange gerollt ist. Ich möchte ihn küssen. Ich möchte ihn so gerne küssen. Ich reiße meinen Blick von seinen Augen los und sehe auf seinen Mund. Jetzt hält er mein Gesicht in beiden
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