Lucy in the Sky
Händen und wischt behutsam die Tränen weg, die wieder fließen. Küss mich! Dann sage ich meinen Flug ab, verlasse James endgültig und bleibe hier bei dir!
Ich wünsche mir so sehr, dass seine warmen Lippen meine berühren. Wenn ich ihm in die Augen sehe, möchte ich nie mehr wegschauen. Wir sind einander so nahe, dass ich sein Gesicht einfach zu mir herabziehen könnte.
Aber er küsst mich nicht, und ich ziehe sein Gesicht nicht zu mir herab. Ein paar Augenblicke später merke ich, dass meine Tränen versiegt sind, und jetzt hat er keinen Grund mehr, mein Gesicht in den Händen zu halten und sie zu trocknen. Wir lächeln uns traurig an, während er ein letztes Mal seinen rauen Daumen über mein Gesicht gleiten lässt, ehe er die Hände wegnimmt und ich ohne seine Berührung mit kalten feuchten Wangen dastehe.
»Da seid ihr ja!«, ruft Amy, die auf ihren viel zu hohen Absätzen auf uns zugestöckelt kommt. Rasch bringe ich ein bisschen Abstand zwischen mich und Nathan. »Die Tore werden bald geschlossen, ihr müsst zurückkommen.«
Überrascht nehme ich zur Kenntnis, dass der Garten gleich zumacht. Amy streckt Nathan die Hand hin. Er nimmt sie nicht, geht einfach auf sie zu, und sie entfernen sich nebeneinander. Ich folge ihnen und denke, dass Amy aussieht wie eine Neunjährige, die in die High Heels ihrer Mutter geschlüpft ist. Wir laufen zurück durch den Garten und zum Tor hinaus. Inzwischen hat der DJ die Party im Zelt ordentlich in Schwung gebracht.
»Ich hab mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist!«, ruft Molly, als sie uns entdeckt. »Ich will gleich den Brautstrauß werfen. Also, stellt euch auf, ich trommle noch die anderen unverheirateten Mädels zusammen.« Während Amy loswankt, packt Molly meine Hand und sieht mich ernst an. Einen Augenblick bleibt mir fast das Herz stehen, und ich frage mich, ob sie gemerkt hat, was mit mir los ist. »Stell dich vorne rechts hin – in die Richtung ziele ich«, verrät sie mir mit dringlicher Stimme.
»Okay.« Ich wende mich zum Gehen, aber sie zerrt mich zurück. Was noch?
»Ich meine natürlich von mir aus gesehen rechts!«
»Okay!«, lache ich und befolge ihre Anweisung. Eine ernste Angelegenheit, dieses Straußwerfen …
Natürlich landet der Brautstrauß nicht mal in meiner Nähe. Amy springt in die Höhe und fällt beinahe um, als sie auf ihren hohen Absätzen landet, aber auch sie erwischt den Strauß nicht. Am Ende ergattert ihn eine von Sams und Nathans Cousinen aus Westaustralien.
Die Sonne geht unter, die Gäste kommen aus dem Zelt, stellen sich ans Geländer und betrachten das Schauspiel. »Wo ist Lucy?«, höre ich Sams tiefe Stimme. Er und Molly stehen dicht beieinander, und beide grinsen breit, als sie mich entdecken. »Lucy, komm her«, sagt Sam und streckt mir die Hand entgegen. Dann legt er den Arm um mich. So stehen wir da und sehen zu, wie der Hafen in sanftem Orange erstrahlt und die Lichter in den Hochhäusern der City heller werden.
Das erinnert mich unweigerlich an meinen Abschiedsabend vor neun Jahren. Nur dass damals ein ganz anderer Bruder meine Gedanken beschäftigt hat. Schon wieder bin ich den Tränen nahe, und ich muss schlucken wie verrückt, um sie zurückzuhalten. Dann ruft jemand: »Schaut mal!«, und wir sehen, wie die Fledermäuse losfliegen, Tausende von ihnen – eine gigantische schwarze Wolke, die lautlos von den Gärten hinweg zur City hinübergleitet. Ein spektakulärer Anblick.
Molly und Sam wenden sich einander zu, ich bleibe ein Stück zurück und lasse sie gehen. Auch die andern Gäste verteilen sich und kehren zum Zelt zurück. Als ich mich nach Nathan umschaue, entdecke ich ihn ein Stück weiter an der Mauer. Er starrt auf den Hafen hinunter, und Amy steht neben ihm.
Mich bringt das alles ziemlich aus der Fassung, aber ich kann nichts machen: Sobald ich Nathan nicht sehe, frage ich mich, wo er steckt. Unablässig bin ich damit beschäftigt, in der Menge nach ihm zu suchen, wie eine Besessene – ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Einmal sehe ich ihn und Amy in einer Gruppe junger Leute – ich glaube, es sind die, bei denen Amy vorhin auch am Tisch saß. Sie lacht, und auch Nathan sieht amüsiert aus. Bevor ich wieder wegschauen kann, bemerkt er meinen Blick und winkt mich zu sich. Ich bin nicht sicher, ob ich mich bei seinen Freunden wohlfühlen werde, vor allem weil Amy dabei ist, aber es wäre seltsam, jetzt nicht hinzugehen. Also lasse ich Jenny, Amanda und noch ein paar andere
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