Lucy kriegt's gebacken
wir ehren unsere Alten, selbst die, die gar nichts davon mitbekommen. So wie es bei Großtante Boggy der Fall ist. Sie ist einhundertvier, spricht seit meinem zweiten Highschool-Jahr kein Wort mehr, wacht nur auf, um zu essen, und fällt dann zurück in ihren Dämmerzustand.
„Was ist das?“, fragt Iris misstrauisch, als sie mir die Tür aufhält.
„Aprikosenbrioche.“ Ich hebe die Serviette an, die das Tablett bedeckt. Boggy wird ein oder zwei essen, die Pfleger freuen sich dann über den Rest.
Sie blinzelt, steckt den Finger in eine Brioche, dort wo der flockige Teig wie es sich gehört aufgebrochen ist. „Wie schaffst du es, dass die so locker werden?“
„Das ist mein Geheimnis, liebe Iris“, erkläre ich freundlich. „Wenn ich sie allerdings im Bunny’s verkaufen darf, werde ich es dir liebend gern verraten.“
„Ungesalzene Butter?“, rät sie.
„Ja, natürlich, aber das ist wohl kaum ein Geheimnis.“
„Lass mich mal eine probieren.“ Rose bricht sich ein Stück ab. Ihr Geschmackssinn ist legendär. „Du hast Essig in den Teig gegeben, richtig, du kluges Mädchen?“
„Überhaupt nicht“, lüge ich. Verflixter Geschmackssinn.
„Auf, Mädels, wir sind schon spät dran“, ruft Mom uns zu. Auch sie ist mit Essen bewaffnet - pürierte Hühnchen- Paprikas , im Wesentlichen also Hühnchen, Butter, Sauerrahm und Paprika. Und sie hat eine weitere ungarische Köstlichkeit dabei - galuska - gesalzener klein geschnittener Kohl, in salziger Butter gebraten, gemischt mit gesalzenen, in Butter gebratenen Nudeln, übergossen mit gesalzener Butter und dann stark gesalzen. Entsetzlich lecker und beinahe tödlich, was den Fettgehalt betrifft. Erstaunlich, dass die Frauen in meiner Familie so alt werden. Man müsste annehmen, dass unser Blut sich schon vor Jahren in schmalzartigen Matsch verwandelt hätte.
„Ach Boggy, siehst du heute nicht wieder hübsch aus“, gurrt Rose, als wir im Zimmer unserer verschrumpelten Verwandten ankommen. Iris bestätigt mit ihrer donnernden Stimme, dass Boggy wirklich gut aussieht, und die beiden richten Boggy etwas auf, die, wie immer, in die Ferne starrt. Mom läuft hinaus, um das Essen aufzuwärmen. Ich stelle mein Tablett ab, setzte mich auf das kleine Sofa in Boggys Zimmer und lausche dem Streit meiner Tanten, ob man das Fenster öffnen oder geschlossen lassen sollte.
Ich muss daran denken, wie zauberhaft Boggys Besuche früher immer waren. Sie hatte einen Autohändler geheiratet und war ziemlich wohlhabend. Großonkel Tony hatte gerüchteweise Verbindungen , was eigentlich nichts Besonderes ist, da so ziemlich jeder in Rhode Island irgendjemanden von der Mafia kennt. Boggy und Tony hatten keine eigenen Kinder, deswegen verwöhnten sie meine Mutter und ihre älteren Schwestern, nahmen sie auf Ausflüge nach Providence oder zum Mittagessen nach Connecticut mit. Einmal reisten sie mit meiner Mutter sogar für eine Woche nach Paris, was Rose und Iris bis heute wurmt. Als Boggy mit achtundvierzig Witwe wurde (Tony soll von einer rivalisierenden Mafiafamilie aus dem Weg geräumt worden sein, doch bei der Autopsie wurde lediglich Tod durch Ertrinken festgestellt), hat auch sie nicht wieder geheiratet. Aber den Spaß am Leben hat sie nie verloren, und nach wie vor war sie ganz vernarrt in die schwarzen Witwen und ihre Großnichten und -neffen. Einmal hat sie mich in ein indianisches Casino auf der Interstate 395 mitgenommen, mir fünf Hundertdollarscheine in die Hand gedrückt und mich aufgefordert, loszulegen. Damals war ich zehn.
Aber als ich sechzehn war, hatte sie einen Schlaganfall, und seitdem lebt sie im High Hopes. Nur ihre Nichten (und ich) besuchen sie, zwar mit großer Hingabe, keine Frage, aber trotzdem: kein liebevolles Streicheln von Enkelkindern, keine Urenkel - nur wir vier.
Wird es mir auch einmal so ergehen, frage ich mich in einem Anfall von Panik. Wird Emma die Einzige sein, die sich noch an die arme Tante Lucy erinnert? Mein Gott, ich hoffe, dass Corinne in diesem Fall noch ein paar Kinder mehr bekommt. Ungefähr sieben, und jedes davon könnte dann an meinem Totenbett stehen, auch wenn ich davon vermutlich nichts mitbekommen würde.
Ich stelle fest, dass ich zu schwitzen begonnen habe. Meine Atmung ist etwas flach. Nein. Ich werde nicht allein enden. Ich werde wieder heiraten. Ich werde bald den passenden Ehemann finden, der sich gut um mich kümmert. Nett, zuverlässig, etwas langweilig. Ich werde süße, witzige Kinder bekommen, die mich
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