Lucy kriegt's gebacken
denke, ich sehe mal nach Dads Grab. Willst du mitkommen?“
Das ist die typische Art meiner Schwester, mich zur Grabpflege zu animieren. Sie geht fest davon aus, dass meine kleine Phobie eines Tages vorbei sein wird und ich mit ihr komme. Das mag stimmen, aber heute jedenfalls nicht.
„Ach nein, danke, Cory. Nicht heute. Wie wäre es, wenn ich mit meiner kleinen Nichte währenddessen einen Spaziergang mache?“
Sie zögert, offensichtlich nicht bereit, ihrer ahnungslosen Schwester ihr Kind zu überlassen. „Bitte?“, bettle ich. „Bitte, bitte?“
„Also, okay. Aber sorg dafür, dass sie immer ein Tuch über dem Kopf hat, damit sie keinen Sonnenbrand bekommt. Aber sie schwitzt auch nicht gern, deswegen musst du darauf achten, dass sie genug Luft bekommt und richtig atmen kann. Außerdem immer das Köpfchen festhalten!“
„Also nicht erwürgen, Lucy“, spöttelt Parker.
„Verstanden.“ Ich nehme meiner Schwester das kleine Liebesbündel aus dem Arm.
„Tut mir leid“, sagt sie. „Ich weiß, dass ihr bei dir nichts passiert.“
„Danke.“ Ich atme den süßlich salzigen Duft des Babys ein.
„Nicky scheint festzustecken. Bin gleich zurück“, ruft Parker. Sie stapft zu ihrem Kind, das kopfüber vom Klettergerüst hängt.
„Soll ich Jimmys Grab gießen?“, fragt meine Schwester.
„Das wäre nett, danke.“ Sie ist wirklich ein Schatz, trotz ihrer Neurosen. Und ich bin sicher nicht in der Situation, mit Steinen werfen zu können.
Wer wird Jimmys Grab gießen, wenn seine Eltern weggezogen sind? Ethan, vermute ich. Oder ich. Könnte schon sein.
Emma dreht ihr Köpfchen und schmiegt sich auf die rührendste Art und Weise an meinen Hals. Ihre Wangen sind so weich. Ich ziehe das Tuch glatt, um sie vor der brennenden Sonne zu beschützen. Sie seufzt, und mein Herz wird schwer vor Liebe.
Die wunderhübschen Gehwege im Ellington Park sind von Ulmen und Ahornbäumen gesäumt. „Ist es nicht schön hier im Schatten?“, frage ich die Kleine, während ich umherwandere, und drücke ihr einen Kuss auf den flaumigen Kopf. „Und da ist ein Vogel, eine Krähe. Krähen sind hübsch. Und sehr klug.“ Man kann nie früh genug anfangen, Kindern etwas beizubringen. Mit ihnen zu sprechen. Ihnen vorzulesen. Das würde ich zumindest tun, wenn ich Mama wäre.
Bisher konnte ich der Versuchung widerstehen, doch jetzt tue ich einen Moment lang so, als ob Emma mir gehören würde. Meine Tochter. Dass dieses Wunder aus Zellen in mir gewachsen ist, dass es mein Bauch war, der rund und fest wurde, und Jimmy deswegen vor Stolz fast geplatzt wäre. Dass ich von innen heraus geleuchtet hatte. Ich war eine glückliche, lachende, schwangere Frau, die sich nie beschwerte, nie Wasser in den Beinen hatte, nie erschöpft war. Und als dann der Augenblick gekommen war, hatte ich die Geburtsschmerzen heldenhaft durchgestanden, ohne Schmerzmittel. Ich hatte gepresst und gepresst, und als der Arzt rief: „Es ist ein Mädchen!“, hatte ich meinen Mann angesehen, und in seinen lächelnden braunen Augen stand die pure Liebe …
Halt.
Jimmys Augen waren nicht braun.
Und außerdem hatte ich mir auch nicht Jimmys Gesicht vorgestellt.
Plötzlich fühlen sich meine Beine ganz weich an vor Entsetzen, nutzlos. Ich beginne, mit den Zähnen zu klappern. Lieber Gott, das ist eine Panikattacke, eine von denen, die ich seit vier Jahren nicht mehr hatte. Ich werde gleich ohnmächtig. Ich halte ein Baby im Arm und stehe kurz davor, ohnmächtig zu werden. In der Nähe ist eine Bank, und irgendwie schaffe ich es, hinzutorkeln und mich schwer darauffallen zu lassen. Nicht ohnmächtig werden, nicht ohnmächtig werden, nicht ohnmächtig werden, sage ich mir stumm vor. Ich atme tief ein, halte den Atem an, atme dann langsam wieder aus, so wie es mir in der Trauergruppe gezeigt worden war. Mein Herz zittert und bebt.
„Ich werde dich nicht fallen lassen, Emma“, wispere ich, und mit ihr zu sprechen hilft. Ich bin ihre Tante. Ich kann nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht. Ich liebe sie viel zu sehr. Mein rasender Herzschlag beruhigt sich, meine Zähne hören auf, zu klappern.
„Tantchen ist in Ordnung“, erkläre ich jetzt mit festerer Stimme. „Tantchen liebt dich, mein Engel.“ Sie gibt ein leises Geräusch von sich, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Mir geht es wieder gut. Dieses Bild vorhin hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Das Gesicht, das ich mir vorgestellt habe - okay, ja, es war Ethans Gesicht … aber das heißt
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