Lucy Sullivan wird heiraten
geben?«
»Wem du willst.«
»Irgendeinem?«
»Vielleicht nicht irgendeinem, sondern einem, der tatsächlich pleite und obdachlos ist – du solltest nicht unbedingt die Leute in den Bars oder Restaurants anhauen und versuchen, denen dein Geld aufzudrängen.«
»Aber ich möchte es dem geben, der es am meisten verdient«, erklärte ich. »Wie kann ich das herauskriegen?«
»Überhaupt nicht.«
»Ach je.«
»Du willst selbstlos Nächstenliebe üben, Lucy, nicht ein moralisches Urteil fällen.«
»Ich urteile doch gar nicht...«
»Doch. Du möchtest ein gutes Gefühl haben, wenn du es dem gibst, der es deiner Meinung nach am meisten verdient«, sagte er. »Würdest du dich schlecht fühlen, wenn dein Geld einem Trunkenbold in die Hände fiele, der klaut und seine Alte verprügelt?«
»Nun ja...«
»In dem Fall siehst du das völlig falsch, Lucy«, sagte Gus. »Entscheidend ist das Geben, nicht das Nehmen beziehungsweise der, der’s nimmt.«
»Ach«, sagte ich matt. Vielleicht hatte er recht. Ich kam mir gedemütigt vor.
»Schön«, sagte ich entschlossen. »Dann geb ich es dem, der da hinten sitzt.«
»Nein, dem auf keinen Fall«, sagte Gus und hielt mich zurück. »Das ist ein ausgesprochener Schweinehund.«
Verärgert sah ich Gus einen Augenblick lang an, dann platzten wir beide vor Lachen. »Machst du Witze?« fragte ich schließlich.
»Nein«, sagte er mit entschuldigendem Lachen. »Gib dein Geld, wem du willst, aber nicht ihm. Er und seine Brüder sind ausgemachte Halunken. Er ist nicht mal obdachlos, sondern hat ’ne Sozialwohnung in Kentish Town.«
»Woher weißt du das alles?« fragte ich beunruhigt, nicht sicher, ob er es ernst meinte.
»Ich weiß es nun mal«, sagte er und ließ es dabei bewenden.
»Und was ist mit dem da drüben?« Ich wies auf einen anderen Unglückseligen, der in einem Hauseingang saß.
»Nur zu.«
»Der ist kein Schweinehund?« fragte ich.
»Nicht daß ich wüßte.«
»Und was ist mit seinen Brüdern?«
»Von denen hab ich nur Gutes gehört.«
Nachdem ich meine klägliche Handvoll Münzen abgeladen hatte, drehte ich mich um und stieß dabei einen älteren Mann an, der über die Straße schlurfte.
»Hallo, einen schönen guten Abend«, sagte er so freundlich, als wären wir gute Bekannte. Er sprach mit irischem Akzent.
»Hallo.« Ich lächelte ihm zu.
»Kennst du den?« fragte Gus.
»Nein«, sagte ich. »Zumindest glaub ich das. Aber er hat mich gegrüßt, und deswegen war es eine Frage der Höflichkeit zurückzugrüßen.«
Gus führte mich über die Straße, durch eine kleine Seitenstraße und in ein hell erleuchtetes warmes Pub, in dem es hoch herging.
Es war voll von lachenden, redenden und trinkenden Menschen. Gus schien alle und jeden zu kennen. In einer Ecke spielte eine kleine Band: Ein Mann spielte Bodhrán, eine Frau Querflöte und eine Person unbestimmbaren Geschlechts strich die Geige.
Ich kannte die Melodie – es war eines der Lieblingslieder meines Vaters. Um mich herum hörte ich lauter irische Stimmen. Es kam mir vor, als wäre ich nach Hause gekommen.
»Setz dich da hin«, sagte Gus, indem er mir einen Weg durch die dichte Menge rotgesichtiger glücklicher Menschen bahnte und auf ein Faß zeigte. »Ich hol was zu trinken, so schnell ich kann.«
Er blieb ewig weg, während ich unbequem auf dem Faß hockte, dessen Rand mir eine Furche ins Hinterteil drückte.
Wie spät es wohl sein mag? fragte ich mich. Bestimmt schon nach elf, doch immer noch wurde am Tresen eifrig ausgeschenkt.
Mit einem Mal kam mir ein Gedanke – war das womöglich einer der Läden, die die Sperrstunde widerrechtlich überschritten? Von so etwas schwärmte mein Vater oft.
Vielleicht, dachte ich erregt.
Ich hatte keine Uhr, die Frau neben mir auch nicht, ebensowenig wie ihre Freundinnen. Aber eine von ihnen kannte jemanden in der hinteren Ecke des Pubs, der eine hatte, und sie kämpfte sich durch die Menge, um für mich die Uhrzeit zu erfragen.
Nach einer Weile war sie wieder da. »Zwanzig vor zwölf«, sagte sie und kehrte zu ihrem Bier zurück.
»Danke«, sagte ich. Ein Schauer der Erregung überlief mich. Ich hatte also recht gehabt – der Wirt hatte die Sperrstunde überschritten und das Lokal von innen abgeschlossen, damit die Polizei nicht hineinkonnte.
Wie herrlich! Wagemutig, dekadent und gefährlich. Vielleicht hätte Gus mich nicht herbringen sollen, wo ich Gefahr lief, verhaftet zu werden, aber es machte mir nichts aus.
Ich kam mir vor wie
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