Lucy Sullivan wird heiraten
werd was essen. Also stand ich auf und lief aus dem eiskalten Zimmer über den Flur in die Küche. Zu meinem Entsetzen war dort schon jemand.
Egal, wer es ist, dachte ich kampflustig, ich werde nicht mit ihm reden.
Es war ein wildfremder junger Mann. Er trug nichts als rote Boxershorts und nahm einen kräftigen Schluck Leitungswasser aus einem Becher. Sein ganzer Rücken war mit Pickeln übersät.
Das war nicht der erste Samstagmorgen, an dem ich in unserer Küche auf einen Mann gestoßen war, den ich nie zuvor gesehen hatte. Der einzige Unterschied zu den anderen Samstagmorgen bestand darin, daß nicht ich ihn mitgebracht hatte.
Irgend etwas an ihm veranlaßte mich, ihn freundlich zu behandeln. Vielleicht lag es an der Art und Weise, wie er das Wasser trank, so, als stünde er kurz vor dem Verdursten, vielleicht war es aber auch sein mit Pickeln übersäter Rücken.
»Im Kühlschrank ist Cola«, sagte ich gastfreundlich.
Er schrak zusammen und wandte sich um. Auch sein Gesicht war voller Pickel.
»Oh, äh, hallo«, sagte er, wobei er die Hände sofort mit schützender Geste vor seine Scham legte. (Ob er da auch Pickel hat? fragte ich mich, ohne mir groß etwas dabei zu denken.)
»’tschuldigung«, murmelte er, »hoffentlich hab ich dir keinen Schreck eingejagt. Ich hab deine... deine Mitbewohnerin nach Hause gebracht.«
»Ach so«, sagte ich. »Welche denn?«
Wem mochte dieser pickelige Jüngling im Lauf der Nacht seine Aufmerksamkeiten aufgenötigt haben – Karen oder Charlotte?
»Äh, das ist mir jetzt ziemlich unangenehm«, sagte er verlegen. »Ich kann mich nicht mehr genau an ihren Namen erinnern. Ich hab wohl ziemlich viel getrunken.«
»Na, dann beschreib sie mal«, sagte ich gutmütig.
»Sie ist blond.«
»Das nützt nichts«, teilte ich ihm mit, »das sind sie beide.«
»Äh, eher kräftig gebaut«, sagte er und machte ausgreifende Handbewegungen.
»Ach, du meinst große Titten«, sagte ich, nachdem ich verstanden hatte, was er meinte. »Auch das könnten beide sein.«
»Ich glaub, sie hat irgendwie eigenartig gesprochen.«
»Als ob sie aus Schottland käme?«
»Nein.«
»Aus Yorkshire?«
»Ja!«
»Dann ist es Charlotte.«
Ich holte mir eine Tüte Salzstangen und ging wieder ins Bett. Kurz darauf stand der pickelige Jüngling in der Tür zu meinem Zimmer.
»Oh«, sagte er verwirrt, und wieder fuhren seine Hände nervös in die Leistengegend. »Wo ist denn...? Ich dachte...«
»Eine Tür weiter«, sagte ich schläfrig.
15
A ls ich zum zweiten Mal wach wurde, war es fast Mittag. Jemand war im Badezimmer, und unter der Tür kam so viel Dampf hervor, daß ich kaum den Flur sehen konnte. Karen lag auf dem Wohnzimmersofa unter einer Steppdecke. Sie hustete und rauchte abwechselnd. Neben ihr auf dem Boden stand ein überquellender Aschenbecher, und sie sah aus wie ein Panda, weil sie sich das Make-up vom Vorabend noch nicht abgeschminkt hatte.
»Morgen, Lucy.« Sie lächelte, ein wenig bleich und matt. »Was hast du gestern abend so getrieben?«
»Nichts«, sagte ich abwesend. »Warum geht es hier zu wie in einer Sauna? Wer ist im Bad? Warum dauert das so lange?«
»Charlotte. Sie läutert sich mit brühend heißem Wasser und schrubbt sich mit Scheuerschwämmchen bis aufs Blut, um für ihre Sünden zu büßen.« Ich konnte nachempfinden, was sie durchmachte.
»Ach, dann hat also die arme Charlotte mit Mister Pickelrücken geschlafen?«
»Woher kennst du den denn?« fragte Karen und wollte sich vor Überraschung aufsetzen, überlegte es sich dann aber anders.
»Ich bin ihm heute morgen gegen halb sechs in der Küche über den Weg gelaufen.«
»War er nicht gräßlich? Aber Charlotte hat ihn durch ihre Bierbrille gesehen, besser gesagt durch ihre Tequilabrille, und hinreißend gefunden.«
»Also ein Fall von verminderter Schuldfähigkeit?«
»Das kannst du laut sagen.«
»War sie wieder scharf auf alles, was sich bewegte und hat aufreizende Tänze aufgeführt?«
»So ist es.«
»O nein!«
Charlotte, eine wohlerzogene lebhafte junge Frau aus einer Kleinstadt in der Nähe von Bradford, lebte erst seit etwa einem Jahr in London. Sie steckte also noch mitten in dem schwierigen Prozeß, zu erkennen, wer sie eigentlich war: das ein wenig vorlaute, aber durchaus anständige, kleine Mädchen mit den Apfelbäckchen, als das sie aufgewachsen war, oder die vollbusige blonde Verführerin, in die sie sich verwandelte, sobald sie zuviel getrunken hatte. Es klingt sonderbar, aber wenn sie
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