Lucy Sullivan wird heiraten
spazierengehen? An einem Sonntag?«
»Ja.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Warum nicht?«
»Weil’s draußen bitter kalt ist.«
»Aber wir können uns warm anziehen und flott marschieren.«
»Aber Gus, ich geh zwischen Oktober und April sonntags nie aus dem Haus, außer abends in die Currykiste. «
»Dann wird es höchste Zeit, daß du damit anfängst! Und was ist die Currykiste? «
»Ein Lokal. Der Inder um die Ecke.«
»Toller Name.«
»Er heißt eigentlich nicht so, sondern Stern von Lahore oder Juwel von Bombay oder so was.«
»Und da gehst du jeden Sonntagabend hin?«
»Du könntest die Uhr danach stellen. Und wir essen immer das gleiche.«
»Aha. Von mir aus können wir später auch dahin gehen. Aber jetzt gehen erst mal wir in den Holland Park. Der liegt gleich am anderen Ende der Straße.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ja. Seit wann wohnst du hier, Lucy Sullivan?«
»Ein paar Jahre«, murmelte ich undeutlich, damit er es möglichst nicht verstand.
»Und du warst in der ganzen Zeit noch nie im Park? Das ist eine Schande.«
»Ich bin nicht für das Leben im Freien geschaffen, Gus.«
»Ich schon.«
»Gibt’s da ’nen Fernseher?«
»Na klar.«
»Ehrlich?«
»Nein. Aber mach dir keine Sorgen. Ich unterhalt dich schon.«
»Einverstanden.«
Ich freute mich und war geradezu entzückt. Er wollte den Tag mit mir verbringen.
»Darf ich diesen Pulli anziehen?«
»Ja. Von mir aus behalt ihn; ich kann ihn nicht ausstehen.«
Gus hatte bei seinem Herumstöbern in meinem Kleiderschrank einen abscheulichen marineblauen Pullover zutage gefördert. Meine Mutter hatte ihn mir gestrickt, und ich hatte ihn noch nie getragen. Ich sah darin aus wie eine Hundert-Kilo-Riesenschildkröte, und er war oben so eng, daß er meinen Hals umspannte wie ein Autoreifen die Felge.
25
A ls ich vom Duschen zurückkam, war Gus nirgends zu sehen. Panik überfiel mich. Der Gedanke, er wäre gegangen, war schlimm genug, aber noch schlimmer war die Vorstellung, daß er noch da war. Seine Fähigkeit, Katastrophen hervorzurufen, suchte allem Anschein nach ihresgleichen, und trotz seiner rührenden Entschuldigung war ich nicht überzeugt, daß man ihn in der Wohnung unbeaufsichtigt lassen durfte.
Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild auf, wie er munter plaudernd bei Daniel und Karen im Bett lag, so daß die beiden zögernd und knurrend ihr bis dahin munteres Treiben einstellten. Aber es war alles in bester Ordnung. Gus saß mit Daniel und Karen am Küchentisch, man trank Tee und hatte die Sonntagszeitungen um sich ausgebreitet. Zu meiner unendlichen Erleichterung kamen alle blendend miteinander aus und führten trotz geklautem Guinness und widerrechtlicher Verwendung von Elizabeth-Arden-Kosmetik eine gesittete sonntagvormittägliche Unterhaltung. Es sah ganz so aus, als hätte Gus seine Differenzen mit Daniel beigelegt, und mit Karen schien er gar ein Herz und eine Seele zu sein.
»Lucy«, lächelte er, als ich an der Tür erschien. »Komm rein, setz dich und iß was.«
»Das hab ich vor«, sagte ich beim Anblick dieser Verbrüderungsszene matt. Ich war ein wenig, na, nicht gerade gereizt, wohl aber verärgert. Vermutlich deshalb, weil all diese Leute, die einander ausschließlich dank meiner Vermittlung kannten, ohne mich bestens zurechtzukommen schienen.
»Ich hab Karen gesagt, daß ich ihr Zeug von Elizabeth Arden benutzt hab«, erklärte mir Gus mit der Miene eines Unschuldsengels, »und sie sagt, das ist in Ordnung.«
»Kein Problem«, sagte Karen und lächelte dabei Gus, Daniel und mich an.
Donnerwetter! Mit Sicherheit hätte sie nicht halb so vernünftig reagiert, wenn Charlotte oder ich den Frevel an besagten Kosmetikartikeln aus dem Hause Arden begangen hätten. Sie schien Gus zu mögen.
Natürlich war es auch möglich, daß sich Daniel diese Nacht im Bett selbst übertroffen hatte. Das würde ich zweifellos später erfahren. Sie würde es mit mir in den allerkleinsten Einzelheiten durchkauen, sobald die Männer verschwunden waren.
Es dauerte Stunden, bis ich fertig war. Nichts auf der Welt ist schwerer, als den Eindruck zu erwecken, vernünftig angezogen zu sein und dabei zugleich hübsch, feminin und zierlich zu wirken. Es war viel schwerer, als mich tags zuvor für das Abendessen mit Daniel passend anzuziehen. Der Trick beim Anziehen für die freie Wildbahn bestand darin, daß man den Eindruck erwecken mußte, als wäre einem völlig gleich, wie man aussah und als hätte man ohne hinzusehen in
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