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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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ihr, über den Tisch zu greifen und ihre Hände auf seine zu legen. »Du wirst mir immer der liebste aller Freunde sein.« Und es fühlte sich gut an. Gut und wahr.

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    »Eine meiner frühesten Erinnerungen ist«, schrieb Lucy, »wie ich auf dem Rücken meiner Mutter, festgekrallt in ihrem Fell, durch die Baumkronen des Waldes schwinge. Sie sprang von Ast zu Ast, fast als würde sie fliegen, und ich konnte spüren, wie mein Magen Purzelbäume schlug, wenn wir uns in hohem Bogen durch die Luft schwangen. Ich wäre heruntergefallen, wenn ich mich nicht ganz fest an sie geklammert hätte. Wir machten diese Ausflüge manchmal aus einem bestimmten Grund, etwa um Bäume aufzusuchen, deren Früchte schon reif waren. Manchmal mussten wir auch vor einer Großkatze fliehen. Aber manchmal schienen wir es auch nur aus Spaß zu machen. Dann schwang die ganze Familie kreischend und lachend durch die Wipfel, und alle freuten sich daran, am Leben zu sein und in diesem herrlichen Dschungel.«
    »Hey, du bist aber schnell.« Es war spätabends, einige Wochen nach dem Besuch im Zoo von Milwaukee. Amanda beugte sich über Lucys Schulter und las auf dem Bildschirm, was diese getippt hatte.
    Lucy sah sich den Text auch noch mal an. »Wie findest du’s?«
    »Super. Bloß noch ein paar hundert solche Absätze, und du bist fertig.«
    »Hör auf zu lästern, hilf mir lieber.«
    »Wie soll ich dir denn helfen? Ich war ja nicht dabei.«
    »Du hast versprochen, du hilfst mir.«
    »Gut, wenn du was geschrieben hast, lese ich es dann. Ich |294| werde so tun, als wäre ich deine Lektorin. Soll ich dich allein lassen, damit du dich konzentrieren kannst?«
    »Nein, du bist meine Muse. Massier mir mal den Nacken.«
    »Okay. Amanda, die massierende Muse.«
    Amandas kräftige Finger gruben sich in Lucys Schultern, und Lucy entspannte sich, bis sie in einer Art Trance war. In diesem Zustand ließ sie mit halb geschlossenen Augen ihre Finger die Geschichten erzählen. Sie schrieb, wie sie von ihrer Mutter gestillt wurde; wie Leda sie wie eine Puppe in die Luft warf und sanft wieder auffing, ehe sie zu Boden fiel; und wie sie mit den anderen Kindern auf dem duftenden Waldboden stundenlang herumtobte und spielte.
     
    »Als wir ein wenig älter waren«, schrieb sie, »kletterten wir alle kreischend die Bäume hinauf und hinunter und jagten einander aus reiner Freude an der Bewegung. Das Leben im Dschungel war auch gefährlich, keine Frage, aber es war eine Art Paradies für uns. Wir lebten nackt und gaben uns unseren Gelüsten hin, da wir weder Scham noch Schuld kannten. Wir
lebten
einfach und nahmen alle unsere Freude und allen Schmerz mit ganzem Herzen an.
    Aber zugleich war ich irgendwie anders, und ich wusste das seit frühester Kindheit. Ich wusste es auf die intensive Art, mit der Kinder Dinge wissen, noch ehe sie ihr Wissen mit Worten umschreiben und benennen können. Denn ich war das Kind des Mannes. Ich war haarlos und ging aufrecht, und ich sprach in Worten und liebte den Mann.
    Bald gab mir der Mann ein Instrument in die Hand, und ich begann zu malen. Zu Anfang war es nichts weiter als Kritzelei, und einige meiner Brüder und Schwestern taten es auch. Aber dann geschah etwas. Der Mann brachte mir Buchstaben bei, und die anderen Kinder konnten nie Buchstaben |295| malen, sondern nur Krakel. Dann wurden aus den Buchstaben Wörter, und es war klar, dass die anderen Kinder nie sein würden wie ich. Ich war auch nicht mehr wie sie. Ich war allein, abgesondert auf entscheidende Weise. Schließlich wurden aus den Wörtern Gedanken, und eine tiefe Kluft tat sich auf zwischen mir und meinen Geschwistern, die nie mehr zu überbrücken war. Ich zahlte einen furchtbaren Preis für meine Gabe, denn sie schloss mich aus dem Kreis derer aus, die ich liebte. Aber ich hatte eine magische Verwandlung durchgemacht. Ich konnte nun dem Mann allein durch Symbole meine Gedanken mitteilen, ohne den Großen Strom. Ein weiterer Preis: Die Sprache lässt den Menschen den Großen Strom vergessen. Schon als kleines Kind erkannte ich das Wunder, aber auch die Traurigkeit dieses mysteriösen Prozesses. Doch der Preis für diese Gabe war, dass ich aus dem Paradies ausgestoßen wurde, aus der allumfassenden Kommunikation mit meiner Familie.
    Ich erinnere mich noch an einen Tag, als ich in der Sonne saß und schrieb. Papa war ganz in der Nähe und reparierte den Generator. Ich blickte über die Lichtung, auf der unsere Hütte stand, und hin zu einem Platz, wo ein paar

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