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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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in verblassenden Buchstaben auf der Seite. Jenny kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, ob jemand darin saß.
    Amanda stellte sich neben sie. »Was siehst du?«
    |301| »Nur einen Van. Aber was tut der hier?«
    »Was sollen wir jetzt machen?«
    »Abwarten.«
    »Werden wir sie je wiedersehen?«
    »Ich weiß nicht.« Dann riss sich Jenny zusammen. »Natürlich werden wir sie wiedersehen.«
    Schweigend warteten sie eine Stunde lang. Dann sahen sie wieder auf die Straße hinaus, der Van war verschwunden. Es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, was das zu bedeuten hatte. Sie mussten sich auf Lucys Intuition verlassen. Jenny hatte es auch gespürt, aber vielleicht war es auch nichts. Vielleicht war Lucy nach dem Besuch bei Donna von unbegründeter Panik erfasst worden. Vielleicht rannte sie vor gar nichts davon. Ein furchtbarer Gedanke.
    Sie versuchten noch etwas zu schlafen. Um acht Uhr morgens klingelte es an der Haustür. Jenny lief es kalt den Rücken herunter. Sie warf einen Morgenmantel über und ging in das Zimmer der Mädchen. Amanda spähte durch den Vorhang hinaus.
    »Wer ist das?«, fragte Jenny.
    »Ich kann nur ein Auto sehen, sonst nichts.«
    Wieder klingelte es.
    »Das ist ja lächerlich. Ich gehe aufmachen.« Jenny lief die Treppe hinunter und riss die Haustür auf.
    Dr.   Ruth Mayer stand davor. »Guten Morgen.«
    »Dr.   Mayer, was machen Sie denn hier?«
    »Ich wusste doch, dass mit diesem Mädchen etwas nicht stimmt. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, wie ernst die Angelegenheit ist. Ich habe das Jugendamt aufgefordert, sich Lucys Fall genau anzusehen, und ich sollte Sie vielleicht vorwarnen, dass ich selbst für die Beurteilung und nachfolgende Beratung zuständig sein werde. Ich muss mit der ganzen Familie |302| arbeiten, daher wollte ich Ihnen und Lucy Gelegenheit geben, mich vorher noch einmal zu sprechen, auch wenn sie vielleicht nicht auf Dauer bei Ihnen bleiben wird.«
    Die Frau selbst und auch das, was sie zu sagen hatte, erschien Jenny so absurd, dass sie unwillkürlich lachen musste.
    »Ich versichere Ihnen, Dr.   Lowe, diese Angelegenheit ist nicht zum Lachen.«
    Aber Jenny konnte gar nicht mehr aufhören. »Tut mir leid, tut mir wirklich leid für Sie«, japste sie und knallte die Tür einfach zu. Sie musste sich dagegenlehnen und lachte und lachte, immer schriller, bis sie sich schließlich die Hand vor den Mund schlug und zu schluchzen begann.

|303| 31
    Lucy schwang sich durch den nächtlichen Himmel, von einem Mond beschienen, den der Schatten der Erde zur Sichel gemacht hatte. Immer dichter wurden die Bäume, und sie merkte, wie sehr dieser Wald ihrem alten Zuhause glich. Abgesehen von den größten unter ihnen, gab es noch fast alle der alten Geschöpfe. Sie blieben den Blicken nur meist verborgen. Während sie sich von Ast zu Ast schwang, tauchte sie ein in den Großen Strom. Sie nahm Signale von Kojoten und Füchsen wahr, und sogar die eines alten Pumaweibchens. Wer hätte gedacht, dass sie hier noch immer ihre Streifzüge machte? Sie kennen mich, dachte Lucy. Diese Geschöpfe wissen, was ich bin, so wie Hunde, denen ich auch nie etwas vormachen konnte.
    Sie zog Richtung Westen, während der Mond unterging, und erreichte das Naturschutzgebiet kurz vor dem Morgengrauen. Oberhalb des alten Flusses stand ein dichter Eichenhain. Als im Osten die ersten Sonnenstrahlen aufstiegen, baute sie sich ein Nest und schlief ein beim Gesang eines Roten Kardinals, der hoch oben in einem Baum saß und seiner Geliebten eines jener Märchen erzählte, die diese Vögel so liebten. Sie sind solche Lügenbolde, dachte Lucy und lachte bei dem Gedanken daran, wie stolz er auf sich war.
    Sie schlief den ganzen Tag und kletterte erst in der Abenddämmerung herunter, um aus den Pfützen zu trinken. Aus dem Fluss zu trinken wagte sie nicht, denn er stank nach Chemikalien und Abwässern. Sie hockte sich auf den Boden |304| und aß ein paar Larven. Ein Kaninchen kam und beäugte sie.
    »Wir sitzen im gleichen Boot, was, Langohr?«
    Kaninchen hatten nicht viel übrig fürs Reden, das wusste Lucy. Andere Tiere dagegen waren richtige Plappermäuler, wie die Grillen oder dieser Rote Kardinal am Morgen. Aber Kaninchen taten trotzdem immer ihre Meinung kund. Dieses krauste die Nase, kratzte sich und sagte: »Letzten Endes sind wir hier alle nur Beute.«
    »Ja«, sagte Lucy, »wir hocken beide auf dem Waldboden, scharren nach etwas zu essen und müssen immer auf der Hut sein vor dem Habicht.« Das

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