Lucy
würden, wäre ich mit dem Auto gekommen. Aber Pizza bei Amici verlangt doch geradezu nach der Ducati.«
Das Restaurant lag in einer recht schäbigen Gegend, die aber langsam zu neuem Leben erwachte, weil in letzter Zeit wieder mehr Leute dorthinzogen und Häuser und Wohnungen renovierten. Eine schummrige Weinbar und ein heller Friseursalon hatten bereits neu eröffnet. Als sie an einem Tisch in einer Ecke saßen, mit einer Karaffe Wein und einer Kerze zwischen sich, hob Harry sein Glas. »Ich schau dir in die Augen, Kleines.« Ihre Blicke trafen sich. Jennys Herz schlug noch immer schneller, wenn sie seine Augen sah. Doch sie |290| konnte ein Gefühl der Furcht nicht abschütteln. Irgendetwas war im Großen Strom, so wie Lucy gesagt hatte.
»Was ist nur los, Harry? Jetzt kenne ich dich schon all die Jahre, seit den Achtzigern. Und wie oft sind wir in dieser Zeit richtig miteinander ausgegangen? Fünfmal?«
»Ich weiß nicht genau. Irgendwas ist los, aber du erzählst es mir nicht.«
»Du hast mir gesagt, ich soll es dir nicht erzählen.«
»Das ist es also? Es wird langsam gefährlich?«
»Ja, leider. Dabei weiß ich noch nicht mal genau, was es eigentlich ist.«
»Aus dem Grund also sind wir hier.« Der Humor schwand aus seinem Gesicht. »Ich liebe dich, Jenny. Das weißt du.«
Ihr Herz machte einen Satz. »Ja, natürlich, das weiß ich, Harry. Ich liebe dich auch. Wir haben schon so einiges gemeinsam durchgestanden.«
»Wir scheinen nur nie zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein für …«
»Für was?«
»Für mehr.«
Jenny seufzte. »Wir haben es versucht.«
»Nicht richtig. Du warst im Dschungel, und ich war ein ehrgeiziger junger Chirurg.«
»Ja, ich weiß. Keiner ist schuld daran.«
»Nun, wir hatten eben beide unsere Prioritäten. Aber jetzt? Du kannst nicht zurück in den Kongo gehen. Du weißt, dass ich Lucy komplett verfallen bin.«
»Ja, sie hat so eine Art, einem das Herz zu rauben, nicht?«
»Und ich weiß, dass sie mich gern hat. Ihr würde es nichts ausmachen, wenn ich immer um sie wäre.«
»Worauf willst du hinaus? Ich meine, ich bin hier, das stimmt. Aber mein Leben ist doch komplizierter als je zuvor.«
|291| »Soll das heißen, dass du interessiert wärst, wenn es nicht so kompliziert wäre?«
»Interessiert woran, Harry?« Das Ganze war so aus heiterem Himmel gekommen, dass Jenny Schwierigkeiten hatte, sich auch nur vorzustellen, wovon er sprach. Dann begann sie auf einmal ohne jede Vorwarnung zu weinen. Sie wusste selbst nicht, warum. »Ach, verdammt, Harry.«
Harry griff über den Tisch und legte seine Hände auf ihre. Sie spürte, wie rau und kräftig sie waren. Tischlern war sein Hobby. Er arbeitete gern mit Dingen, die man anfassen konnte. »Entschuldige, dass ich so damit herausgeplatzt bin. Ich möchte für dich da sein, wenn es nötig ist. Aber du versuchst immer, mit allem ganz allein fertig zu werden.«
Sie wischte sich über die Augen und sah ihn an.
»Jenny, verzeih mir, dass ich von all dem anfange. Aber ich habe meine Schwester an Krebs sterben sehen. Ich weiß, was es bedeutet, jemanden so sehr zu lieben, dass man es kaum erträgt, die Tage vergehen zu sehen, an denen einem dieser Mensch langsam und unaufhaltsam entgleitet ins …« Er hob seine Hände von ihren, als ließe er einen Vogel frei. »… ins Nichts. Und ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich jetzt auch dich verliere. Ich weiß nicht, wie oder warum. Es ist nur ein Gefühl.«
Während sie ihm zuhörte und sein freundliches Gesicht betrachtete, begriff Jenny: Harry empfand das gleiche Gefühl der Furcht, das sie getrieben hatte, Donna aufzusuchen. Nur dass er nicht wusste, warum. Sie nahmen beide dieselben Signale wahr, doch Harry wusste sie nicht zu deuten. Er reagierte darauf mit dem Versuch, Jenny stärker an sich zu binden. Er interpretierte seinen Impuls, sie beschützen zu wollen, als Liebe, die einzige Erklärung, die ihm einfiel, die sein logisches Denken akzeptieren konnte.
|292| Jenny war nicht länger den Tränen nahe, im Gegenteil, sie spürte, wie plötzlich Kraft sie durchströmte. Sie sah auf und sah die Güte seines Herzens in Harrys Gesicht. Warum nur hatte er nie eine andere gefunden, fragte sie sich, er war doch wahrlich ein guter Fang. »Ich liebe dich auch, Harry. Wirklich. Und deine Geste rührt mich. Aber ich glaube, es ist wohl einfach zu spät für uns.« Die Art, wie er sie ansah, versetzte Jenny einen Stich. Dann senkte er den Blick, und jetzt war es an
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