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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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drei Uhr morgens war und sie Jenny nicht aufwecken wollten. Schließlich ebbte ihr Lachen langsam wieder ab, und sie saßen einen Augenblick nur da. Dann hoben sie beide zur selben Zeit den Kopf, und ihre Blicke trafen sich erneut.
    »Hörst du?«, flüsterte Lucy.
    »Was ist denn?«
    »Die Grillen schweigen.« Lucy lauschte auf den Großen Strom. Überlagert von den Geräuschen der Stadt konnte sie die Signale wahrnehmen. »Irgendwer ist hier«, sagte sie.
    Sie lauschten beide eine Zeit lang, und dann stand Lucy auf und begann sich anzuziehen.
    »Was tust du denn da?«, fragte Amanda.
    »Ich muss gehen.«
    »Ist es jetzt so weit?«
    »Ja. Ja. Amanda, hör mir zu. Ich will, dass du zurück zu deiner Mutter oder zu deinem Vater gehst. Ich will, dass du aufs College gehst und ein gutes Leben hast.«
    »Was redest du denn da? Ich habe ein gutes Leben. Die ganze Zeit als Kind, allein mit meiner Mutter, habe ich davon geträumt, eine richtige Familie zu haben, und jetzt habe ich eine. Lucy, wir finden eine Lösung. Bitte.«
    »Nein, nein, hör auf mich. Ich bin in Schwierigkeiten, Amanda. Ich bin in ernsthaften Schwierigkeiten. Ich will nicht, dass du verletzt wirst.«
    »Luce, ich werde dich nicht allein lassen.«
    »Du verstehst überhaupt nichts!«, schrie Lucy. »Ich weiß |299| Dinge, die du nicht weißt. Ich habe Tierinstinkte. Ich weiß, was kommt, bevor es da ist. Und ich sehe, dass du verletzt wirst. Ich meine, so verletzt, dass du nicht wieder aufstehst. Ich sehe, dass auch ich Leute verletzen werde, Amanda. Ich sehe mich vielleicht sogar töten, und man hat mir beigebracht, nicht zu töten. Ich will nicht, dass du verletzt wirst, und ich will nicht, dass du mich so siehst.«
    »Dass ich dich wie sehe?«
    »Dass du mich so siehst, wie ich sein muss, um das alles durchzustehen.«
    »Wirst du wirklich durch die Bäume gehen, wie Donna gesagt hat?«
    »Ja. Es tut mir leid. Ich muss mich jetzt beeilen. Ich bin auf der Flucht.« Lucy nahm Amanda in die Arme. »Auf Wiedersehen, Amanda. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.« Lucy konnte spüren, dass Amanda zu schluchzen begann.
    »Du gehst doch nicht wirklich. Sag mir, dass du nicht wirklich gehst. Lucy, das ist so gemein.«
    Schweren Herzens ließ Lucy Amanda los und ging den Flur entlang zu Jennys Schlafzimmer. Als Lucy die Tür öffnete, flüsterte Jenny: »Ich habe es gehört.«
    »Sie sind irgendwo da draußen. Vielleicht beobachten sie mich nur. Ich weiß es nicht.«
    Jenny sprang aus dem Bett, fasste Lucy bei den Handgelenken und sah ihr in die Augen. In ihrem Gesicht zeichnete sich so viel Liebe ab, eine solche Intensität, dass es Lucy fast schmerzte, sie anzusehen. »Lucy, es gibt Menschen, die uns unterstützen. Meinst du nicht, es gibt einen anderen Weg?«
    »Nein, Mom, nein. Du hast es selbst geplant. Und du weißt es doch auch. Du bist im Großen Strom.«
    »Ja, ich weiß es.« Jenny ließ Lucy wieder los. »Du hast recht. Ich will es nur einfach nicht glauben.«
    |300| »Mom, mit jedem Tag, den ich bleibe, werde ich schwächer und sie stärker.«
    »Ich bin nur noch nicht bereit dafür. Aber das werde ich wohl nie sein.«
    Es stand so viel Traurigkeit in Jennys Gesicht. Lucy umarmte sie, und lange hielten sie sich einfach nur fest. »Mom. Mom. Ich liebe dich. Ich bin dir so dankbar für alles, was du für mich getan hast. Aber du musst auf den Großen Strom vertrauen.«
    Jenny ließ sie los und setzte sich schweigend aufs Bett. Lucy huschte durchs Zimmer. Sie konnte spüren, dass Amanda zur Tür gekommen war, doch sie drehte sich nicht mehr um. Sie öffnete das Fliegengitter am Fenster, streckte den Arm hinaus, bekam einen Ast des Ahornbaums zu fassen und war verschwunden.
     
    Jenny saß da wie im Schock. Kühle Luft, ein erstes Anzeichen des kommenden Herbstes, blähte die Vorhänge, während das Rascheln in den Bäumen leiser wurde. Jenny hoffte, sie würde noch einmal aufwachen und erkennen, dass dies alles nur ein Albtraum war. Amanda stand mit Tränen in den Augen im Türrahmen. Dann kam sie zu Jenny gelaufen, sank an ihre Schulter und weinte so sehr, dass ihre Tränen Jennys T-Shirt durchweichten. »Sch, sch«, machte Jenny und legte die Arme um Amanda. »Komm«, sagte sie nach einer Weile. »Lass uns mal nachsehen.«
    Sie gingen in Lucys Zimmer. Jenny blickte durch den Spalt im Vorhang hinaus auf die Straße. Ein verbeulter blauer Lieferwagen stand am Straßenrand, die Laternen spiegelten sich in seinen Scheiben. »Miles Electric« stand

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