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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Bonobos spielten und sich sonnten. Ich blickte zu Papa hinüber, der mit einem Schraubenzieher in der Hand über die Maschine gebeugt dastand. Dann blickte ich auf meine eigene Hand mit dem Bleistift, auf die Wörter auf dem Blatt. Und zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke: Ich bin ein Mensch.«
     
    Lucy hörte auf zu schreiben und ließ Amanda auf ihrem Stuhl Platz nehmen. Jetzt massierte sie Amanda den Nacken. Nach einer Weile drehte Amanda sich mit Tränen in den Augen um. »Lucy, das ist so schön. Es wird ein großartiges Buch. Ich weiß es einfach.«
    |296| Als sie Amandas Tränen sah, dachte Lucy: Etwas zu machen, das andere zu Tränen rühren kann, ist zutiefst menschlich. Vielleicht bin ich wirklich ein richtiger Mensch. Und sie spürte, wie ihr selbst Tränen in die Augen stiegen. Amanda stand auf, und dann lagen sie einander in den Armen, und spendeten sich Wärme in dieser trostlosen Welt, und Worte waren überflüssig.
    Sie legten sich aufs Bett und hielten sich auch in der Dunkelheit ganz fest. Lucy erinnerte sich, wie unglücklich sie in diesem Zimmer gewesen war, als sie hier ankam. Inzwischen hatte sich so vieles verändert. Sie hatte Amandas Haar im Gesicht. Es roch nach dem Meer.
    »Ich liebe dich, Lucy.«
    Lucy spürte, wie ein Schauer sie durchfuhr. »Ich weiß. Ich liebe dich auch. Du findest mich also nicht zu seltsam?«
    »Du bist die absolut Seltsamste überhaupt, meine kleine Zuckerrübe.«
    »Ach, halt bloß den Mund«, murmelte Lucy noch lächelnd, und dann schlief sie ein, mit bis zum Hals klopfendem Herzen. In dieser Nacht träumte sie von Figan, Melissa, Flo und ihrer ganzen alten Familie. Aber unter ihnen waren auch die Bonobos, die sie in Milwaukee kennengelernt hatte. Sie hatten gerade einige hohe Feigenbäume entdeckt, deren Früchte schön reif waren, und sie saßen in den Ästen und lachten, plauderten und aßen. Süßer Saft lief ihnen über das Kinn. Ein leichter Nebel stieg auf. Als sie satt waren, hielten sie sich in den Bäumen an den Händen und freuten sich an ihrem großen Glück. Dann kletterten sie anmutig hinunter und bildeten auf dem Boden einen Kreis. Sie umarmten einander, wurden zu einem großen Haufen aus Fell, klopften sich auf die Rücken und lachten. In dem Traum hatte auch Lucy ein Fell, und sie strich darüber und freute sich, wie weich und warm es war. |297| Verschwunden war der Mensch Lucy. Jetzt war sie ganz Bonobo, zurückgekehrt ins Paradies und endlich glücklich.
    Dann veränderte sich der Traum, und Schnee begann zu fallen, mitten im Regenwald. Plötzlich war Lucy die Einzige mit einem Fell. Unerklärlicherweise waren die anderen alle zu Menschen geworden, und sie waren nackt. Sie sprachen miteinander und sagten, dass sie erfrieren müssten, wenn sie nicht auch so ein Fell wie Lucy hätten. Sie sprachen ganz ruhig miteinander, so wie Menschen es taten. Dann schlug einer vor, sie könnten doch einfach Lucys Fell nehmen, es selbst tragen und sich so warm halten. Ein anderer zog bereits ein Messer. Lucy versuchte noch, ihnen zu sagen, dass sie das bleiben lassen sollten, doch sie konnte nicht mehr sprechen, nur noch kreischen und grunzen. Die anderen hielten sie fest, und dann begann der mit dem Messer, ihr die Haut vom Bauch zu schneiden. Blut tränkte ihr dunkles Fell. Lucy begann sich zu winden und zu schreien und nach ihnen zu schlagen. Und dann wachte sie auf, weil Amanda sie an den Schultern gepackt hatte und immerzu rief: »Luce, Luce, wach auf. Du hast einen Albtraum.«
    Keuchend setzte Lucy sich im Bett auf. Allmählich wurde ihr Herzschlag wieder langsamer, und Amanda und sie sahen einander an. Nach einer Weile fragte Lucy: »Amanda, warum bist du bei mir geblieben? Du hattest doch so viele Freunde in der Highschool. Vermisst du die gar nicht?«
    Amanda dachte ziemlich lange nach, bevor sie etwas dazu sagte. »Deinetwegen, Luce. Schon als ich dich das erste Mal sah, wusste ich, dass du etwas ganz Besonderes bist.« Die beiden Mädchen sahen sich in die Augen, und Wärme strömte zwischen ihnen hin und her. »Was hast du geträumt?«
    »Ich war im Wald und habe mit Bonobos gespielt. Doch dann haben sie sich in Menschen verwandelt und mich angegriffen.«
    |298| »Das passt. Weil wir ständig davon reden, dass dich jemand schnappen will.«
    »Manchmal hasse ich es, ich zu sein.«
    »Es ist auch ziemlich hart, ein Mensch zu sein.«
    Sie bekamen beide gleichzeitig einen Lachanfall, den sie aber zu unterdrücken versuchten, weil es erst

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