Lucy
Kaninchen streckte sich wie eine Katze und knabberte an einem herabhängenden Blatt. »Es wird dunkel, Langohr. Ich mach mich besser auf in Richtung Norden.« Und damit sauste Lucy in die Baumkronen hinauf und war wieder unterwegs.
Bis der Mond aufging, bewegte sie sich vorsichtig. Dann hielt sie noch einmal an, um zu trinken, und eilte mit größtmöglicher Geschwindigkeit weiter. Sie kam in eine Sumpfgegend, wo die Bäume weiter auseinanderstanden. Viele der Kronen trugen die ausladenden Nester von Kanadareihern. Einige der Vögel standen unten im Wasser, redeten in kehligen Lauten und spekulierten aufgeregt über Lucy. Als sie mit großen Sätzen von Baum zu Baum sprang, flogen sie aufgescheucht hoch, kreisten eine Weile über den Baumkronen und zogen schließlich nach Osten in den aufgehenden gelben Mond hinein davon.
Lucy hörte den Hubschrauber irgendwann vor dem Morgengrauen. Anfangs glaubte sie nicht, dass er etwas mit ihr zu tun hatte, weil er vorüberflog. Aber dann drehte er um und kam zurück. Wieder flog er über sie hinweg, drehte um und wurde langsamer. Plötzlich glitten grelle Suchscheinwerfer über die |305| Baumwipfel. Mit hämmerndem Herzen ließ Lucy sich Ast um Ast weiter hinab. Die Lichtstrahlen drangen bruchstückhaft bis ins Unterholz vor, während das Lärmen des Motors die Erde erbeben ließ. Wie haben sie mich gefunden, dachte Lucy. Sie musste sich unbedingt beruhigen und nachdenken. Was hatten Jenny und Donna noch zu ihr gesagt? Ihr Vorteil war es, dass sie denken konnte. Ich bin ein Mensch, sagte sie sich selbst. Ich besitze Verstand und kann logisch denken. Denk nach. Denk nach.
Ihr fiel nur eine Möglichkeit ein, wie man sie gefunden haben konnte, mit Infrarot. Oder vielleicht waren sie ihr schon den ganzen Weg gefolgt. Aber wie? Per Satellit? Egal. Sie mussten sie mithilfe ihrer Körperwärme entdeckt haben.
Sie rannte von Baum zu Baum, bis ihre Füße im Uferschlamm versackten. Er schluckte ihre Sneakers, doch sie lief immer weiter. Das Wasser stieg ihr bis über die Knie, und dann war sie eingetaucht bis zum Hals. Es war kalt, aber eine Weile würde sie es aushalten können. Sie tauchte den Kopf unter Wasser und ließ sich von der rasch dahinfließenden Strömung forttragen. Ab und zu hob sie das Gesicht aus dem Wasser, um zu atmen. Sie wusste nicht, wie lange sie so im Fluss trieb, nur, dass sie in der richtigen Richtung unterwegs war, und allein darauf kam es an. Nach einiger Zeit passierte sie eine alte Betonbrücke und tauchte auf. Sie hob den Kopf und lauschte. Der Hubschraubermotor war sehr weit entfernt.
Aber für wie lange? Vielleicht sollte sie sich lieber unter Menschen mischen, anstatt allein durch die Nacht zu ziehen. Doch ihre Kleidung war jetzt völlig hinüber. So konnte sie sich nirgends sehen lassen.
Sie schwamm ans Ufer und kroch durch den Schlamm in den Wald hinein. Noch einmal lauschte sie angestrengt: kein Hubschrauber. Hier war das Naturschutzgebiet nur ein |306| schmaler Streifen dichten Waldes, kaum eine Viertelmeile breit, der sich durch Wohngegenden und Farmland bis an die Grenze zu Wisconsin zog. Zitternd und nass orientierte Lucy sich am Mond Richtung Osten, bis sie an eine Straße kam. Sie lauschte auf Verkehr, überquerte sie und eilte dann hinein in eine kleine Siedlung dichtstehender Vorstadthäuser.
Sie lief durch Gärten, sprang lautlos über Zäune und sog alle Gerüche auf. Hund. Katze. Waschbär. Kaninchen. Menschen. Lärmende Klimaanlagen. Haus um Haus passierte sie, in allen konnte sie schlafende Familien riechen. Die Häuser waren alle dunkel, nur selten einmal brannte eine Lampe an der Rückseite. Lucy wich den Lichtern aus und kam am Ende einer Sackgasse schließlich zu einem Haus, in dem einige Fenster erleuchtet waren. Drei Autos parkten in der Auffahrt. Die Vorhänge waren geschlossen, die Klimaanlage ausgeschaltet. Lucy schlich sich an den Hintereingang und schnüffelte an der Türritze. Es war seit längerer Zeit niemand hier gewesen.
Sie ging über die Terrasse zu einer gläsernen Schiebetür. Der Metallriegel gab sofort nach. Sie schob die Glasfront einen Spalt auf und schlüpfte durch die Vorhänge hinein. Einen Moment blieb sie stehen, um sicherzugehen, dass sie allein war. Irgendwo siechte eine Hauspflanze vor sich hin. Rasch lief sie durchs Haus. Küche, Wohnzimmer, Esszimmer. Oben fand sie das Elternschlafzimmer mit einem gerahmten Porträtfoto von Mom, Dad und drei Kindern auf der Kommode. Eins der Mädchen, ein
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