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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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seufzte sie erleichtert. Perfekt, dachte sie. Niemand wird nach einem Jungen suchen.
    »Was treibt dich so früh am Morgen auf den Highway raus?«
    »Ich will meine Großmutter besuchen.«
    »Tramper sieht man nicht mehr oft. Ist ’ne verloren gegangene Kunst. Vor dem Krieg, ja, da bin ich durchs ganze Land getrampt. Aber heutzutage haben die Leute Angst.« Er schaltete das Radio an und drehte am Knopf der Skala, doch es kam |378| nur Geknister aus dem Lautsprecher, der an das Armaturenbrett angeschraubt war. Dann wurde der Pick-up plötzlich langsamer und schlingerte. Der alte Mann hatte den Fuß vom Gaspedal genommen, einmal kräftig gegen das Radio getreten, und jetzt sang Lucinda Williams
Big Red Sun Blues
.
    »Irgendwann muss ich das Ding mal reparieren lassen.«
    Als sie ungefähr zwanzig Minuten gefahren waren, zeigte der alte Mann aus dem Fenster und sagte: »Da drüben leben die Geister. Hast du die Felsritzungen schon mal gesehen?«
    »Nein«, erwiderte Lucy.
    »Da sind Gravuren auf den Felsen von allen Geistern. All das war mal fruchtbares Farmland. Von Flüssen durchzogen. Das wilde Getreide wuchs meilenweit. Und jede Menge Fische gab’s, und Wild. Aber dann kamen die Geister und haben das ganze Wasser ausgesaugt. Die Menschen mussten fortziehen. Jetzt ist alles trocken.« Der Verkehr verlangsamte sich, bis sie nur noch im Schneckentempo vorankamen. »Was zum Teufel ist das denn?«, sagte der alte Mann und beantwortete seine Frage gleich selbst: »Hat wohl ’nen Unfall gegeben.«
    Als sie dem Engpass näher kamen, beugte er sich aus dem Fenster. »’ne Polizeisperre«, sagte er. »Sie kontrollieren die Autos.«
    »Warum das denn?«, rief Lucy erschrocken.
    »Frag mich nicht.«
    Es ging nur langsam voran, doch schließlich konnte Lucy sehen, dass die Polizei jeden Fahrer und Beifahrer einzeln befragte. »Bitte«, begann sie, »sagen Sie denen nicht, dass ich getrampt bin.«
    »Warum denn nicht? Steckst du etwa in Schwierigkeiten?«
    »Nein. Bitte. Sagen Sie denen einfach   – sagen Sie, dass ich Ihr Enkel bin.«
    |379| Er sah Lucy eindringlich an. »Was hast du getan? Etwa wen ausgeraubt?«
    »Nein, nein, so was doch nicht. Ich bin aus dem Waisenhaus weggelaufen. Ich hab Sie angelogen. Ich hab gar keine Großmutter in Albuquerque. Ich bin Waise. Aber ich konnte es da nicht aushalten. Bitte, helfen Sie mir, sonst bringen die mich wieder dahin zurück.«
    Er musterte sie recht lange. Dann waren sie die Nächsten in der Autoschlange.
    »Warum sollte ich dir das glauben?«
    »Es ist ein katholisches Waisenhaus, und da gibt’s einen Priester, der alle Jungs missbraucht. Ich musste da weg.«
    Der alte Mann sah die Polizeiwagen und die Polizisten mit ihren Sonnenbrillen an. Dann drehte er sich wieder zu Lucy um. »Na denn. Das glauben die vielleicht sogar.«
    »Was glauben die?«, fragte Lucy verwirrt.
    »Sag, dass du ein Mescalero-Apache aus dem Reservat unten bei Las Cruces bist. Du heißt William Little Bear. Ich bin Ronald Little Bear. ’nen Ausweis hast du nicht, weil du noch zu jung bist. Hast du das verstanden?«
    »Oh, ja. Danke. Vielen, vielen Dank.«
    Als sie weiter vorfuhren, trat an jede Seite des Pick-up ein Polizist. Ein großer Weißer mit Schnauzbart beugte sich zum Fenster des alten Mannes und bat ihn, sich auszuweisen. Der alte Mann gab ihm seinen Führerschein. Der Polizist auf Lucys Seite war klein und sah aus wie ein Mexikaner. »Zeig mal deinen Ausweis«, sagte er mit einem leichten Akzent.
    Sie spürte, dass ihre Wunde unter der Baseballkappe wieder zu bluten begann.
    »Der Kleine hat keinen Ausweis. Ist ja noch ’n Kind.«
    Lucy sagte nichts. Ein kleines Rinnsal Blut lief ihr den Hinterkopf |380| herab. »Wie heißt du denn, mein Sohn?«, fragte der Mexikaner.
    »William Little Bear.«
    »Dann sind Sie beide also verwandt?«, sagte der andere Polizist zu dem alten Mann.
    »Ja, er ist mein Enkel.«
    »Haben Sie unterwegs irgendwen trampen sehen?«, fragte der Mexikaner.
    »Nee, haben wir nicht.«
    Lucy konnte erkennen, dass die Polizisten alle möglichen Signale von ihr und dem alten Mann auffingen. Aber ihnen fiel kein vernünftiger Grund ein, um sie zu verhaften. Sie hatten nur ein seltsames Gefühl. Lucy wusste, wenn man den Großen Strom nutzen wollte, musste man ihn akzeptieren. Weil das Blutrinnsal nun den Rand der Baseballkappe erreicht hatte, lehnte sie sich an die Kopfstütze, um es so vielleicht zu stoppen. Durch den veränderten Blickwinkel fing sie plötzlich ihr Bild

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