Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
Vom Netzwerk:
Verkehrslärm einer Straße hören, und sie bahnte sich durch den Wald einen Weg dorthin. Vereinzelte Autos und Lastwagen fuhren auf einem vierspurigen Highway. Sie begann am Standstreifen entlangzulaufen, wo sie auf eine Krähe traf, die an dem Kadaver eines überfahrenen Tieres pickte. Als Lucy sich ihr näherte, warf die Krähe ihr mit schiefgelegtem Kopf einen funkelnden Blick zu. »Ich kenne dich!«, schrie sie. »Ich kenne dich! Ich kenne dich!«
    |374| »Hau ab!«, rief Lucy erbost, und die Krähe flog auf. Ihre glänzend schwarzen Schwingen durchschnitten die Luft, während sie noch immer krächzend auf Lucy herabschimpfte.
    Lucy streckte den Daumen aus. Davon hatte sie in den Romanen
Früchte des Zorns
und
Unterwegs
gelesen, und sie fragte sich, ob das Trampen wohl auch heute noch funktionierte. Mit der Sonne im Rücken ging sie weiter, und ihr langer Schatten fiel auf das Land wie der einer großen Spinne.

|375| 45
    Amanda tunkte Mais-Chips in ein Plastikschälchen mit Bohnendip und trank eine Diätcola, während der alte Toyota auf einer verlassenen Straße durch die großen, von Bewässerungskanälen durchzogenen Weizen- und Baumwollfelder von Oklahoma fuhr. Ohne die Highways und die großen Bundesstraßen zu benutzen, waren sie den ganzen Tag und die ganze Nacht gefahren und hatten sich mit Schlafen abgewechselt.
    Jenny hatte Ruth Randall angerufen, die einzige Person, die sie in New Mexico kannte. Sie war extra zu Harry gegangen, um den Anruf zu machen, und hatte zu Ruth nur gesagt, dass sie ihre Einladung auf die Ranch gern annehmen würden.
    »Soll Luke Sie mit dem Flugzeug abholen?«, fragte Ruth. »Kein Problem.«
    »Nein, wir fahren mit dem Auto«, erwiderte Jenny.
    »Ach ja, ich bin auch immer gern auf den weiten Straßen unterwegs gewesen. Aber dazu kann ich Luke heutzutage nicht mehr überreden. Er hat es stets viel zu eilig.«
    »Wir müssten morgen schon bei Ihnen ankommen.«
    »Ich erwarte Sie.« Jenny meinte dem veränderten Tonfall in Ruths Stimme entnommen zu haben, dass Ruth das Unausgesprochene aufgefangen hatte.
    Jenny legte auf und sah Amanda an, die in Harrys Küche neben ihr stand.
    »Wir werden sie finden«, sagte Amanda entschlossen.
    »Ich hoffe es«, erwiderte Jenny.
    |376| »Wir werden sie finden.«
    Harry hatte ihnen für die Reise noch Sandwiches gemacht. Doch Jenny hatte ihm nicht erzählt, wohin sie fuhren, nur dass sie anrufen würde, wenn sie angekommen seien. Harry hatte es, wie immer, verstanden.
    Jetzt steckte Amanda, nach einer langen Fahrt durch die Nacht, eine CD in den C D-Player .
American Girl
setzte ein und Chöre himmlischer Stimmen schwebten dahin über wilden Gitarren-Riffs. Sie lächelte Jenny an und hielt ihr einen Mais-Chip mit Bohnendip hin. Jenny öffnete den Mund, und Amanda schob ihn hinein. Eine Sekunde lang schloss Jenny die Augen, dann kaute sie genüsslich.
    »Warum sind die Dinger so gut?«, fragte Jenny. »Es ist doch nur Junkfood.«
    »Das amerikanische Abendmahl«, erwiderte Amanda.
    »Weißt du«, begann Jenny. »Wenn man Kinder hat, möchte man ihnen alles geben. Ich hatte nie eigene Kinder, aber ich glaube, jetzt verstehe ich es. Man will ihnen einfach alles geben. Aber man selbst muss ja auch leben. Und dann fühlt man sich irgendwie schuldig, wenn man sich an Dingen erfreut, die sie nicht haben können. Es ist schrecklich.«
    »Wir werden sie finden«, versicherte Amanda ihr. Es war zu ihrem Mantra geworden.
    Und Tom Petty sang dazu:
»After all, it was a great big world with lots of places to run to   …«

|377| 46
    Lucy lief mit ausgestrecktem Daumen den Highway entlang, während die Autos und Lastwagen vorbeirasten. Eine Stunde verging, und niemand drosselte auch nur das Tempo. Lucy hatte schon gedacht, dass das Trampen wohl doch aus der Mode gekommen sei. Dann fuhr ein ramponierter alter Pick-up, der einst schwarz gewesen war, vor ihr auf den Standstreifen, und Lucy rannte hin. Durch das offene Beifahrerfenster sah sie in das lächelnde Gesicht eines alten Indianers in Latzhosen und mit einem speckigen Cowboyhut auf dem Kopf. Er beugte sich herüber und öffnete die Tür.
    »Wo soll’s denn hingehen, Kleiner?«
    Lucy kletterte hinein. »Albuquerque«, sagte sie und fragte sich, warum er sie Kleiner nannte.
    »Dann ist heut dein Glückstag. Mach die Tür zu, mein Sohn.«
    Lucy schlug die Beifahrertür zu, da fiel ihr ein, dass ihr Haar ja kurz geschoren war. Als der Pick-up sich wieder in den fließenden Verkehr einfädelte,

Weitere Kostenlose Bücher