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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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haben es immer auf Hoden und Hintern abgesehen, aber sie beißen auch Finger ab und verletzen das Gesicht des Gegners mit ihren großen Schneidezähnen. Wenn ein Schimpanse einen anderen tötet   – oder einen Menschen   –, gibt es dramatische Wunden. Es fließt jede Menge Blut. Geradezu schauerlich. Aber kein gebrochenes Genick.«
    »Haben Schimpansen schon früher Menschen getötet?«
    »Definitiv. Ich kenne diverse Fälle. Aber es war immer mit einem heftigen Biss ins Gesicht. Nach Millionen von Jahren, in denen sie so getötet haben, hören Schimpansen damit nicht plötzlich auf und denken sich irgendeine neue Strategie aus. Bonobos dagegen   … Die sind anders. Sie beißen auch Finger ab, aber sie kämpfen mit den Füßen, wenn sie töten wollen. Sie treten. Ein Tritt an den Kopf von einem starken Bonobo kann einem das Genick brechen.«
    »Was heißt das jetzt?«, fragte Amanda verwirrt.
    »Das heißt, das dieser Tierarzt nicht von einem Schimpansen getötet wurde.«
    »Was hältst du dann von der Geschichte?«
    »Ich weiß nicht.« Jenny starrte den Artikel an, als könnte sie ihm so irgendwie mehr Informationen abpressen. »Alamogordo. Darüber habe ich schon gelesen. Es ist ein Primaten-Forschungszentrum auf dem Luftwaffenstützpunkt Holloman. Jane Goodall hat versucht, die Schimpansen dort zu befreien. |369| Es besteht schon seit Jahrzehnten, und noch nie wurde jemand getötet. Hinter dieser Geschichte steckt noch sehr viel mehr. Jedenfalls wurde dieser Tierarzt nicht von einem Schimpansen getötet.«
    »Wenn es auf einem Luftwaffenstützpunkt ist, warum haben sie’s dann überhaupt an die Presse gegeben?«
    »Nun, es ist jemand an seinem Arbeitsplatz umgekommen. Er war Arzt, ein Veterinär. Vermutlich hatte er Familie, die wissen wollte, was passiert ist. Sie mussten irgendetwas veröffentlichen. Und weil sie nicht sagen konnten, was wirklich geschah, haben sie es einem alten, aufsässigen Schimpansen angehängt, den sie loswerden wollen.«
    »Oh mein Gott!«, rief Amanda. »Lucy sagte, sie müsste vielleicht jemanden töten. Was sollen wir jetzt machen?«
    »Ich weiß es nicht. Aber wenn Lucy dort war und wenn sie auf diese Weise entkommen ist, dann sollten wir sie besser vor denen finden.«
    »Wie wollen wir das denn machen?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Jenny.

|370| 44
    Das Gelände um das Primaten-Forschungszentrum war felsig und offen. Im Westen konnte Lucy ein hell angestrahltes Flugfeld sehen, und so flüchtete sie, über Steine und niedriges Piniengebüsch springend, in die entgegengesetzte Richtung. Sie erreichte einen kleinen See und lag keuchend unter einem mondlosen Himmel. Jetzt hatte sie wenigstens Wasser. Das war immer das Wichtigste: Finde eine Wasserstelle, und du findest deinen Weg. Das hatte ihr Vater ihr gesagt. Papa, Papa, dachte Lucy, liebe oder hasse ich dich? Er hatte sie auf all das hier vorbereitet, weil er wusste, was geschehen könnte. Aber warum? Warum hatte er sie überhaupt erschaffen? Doch dann fragte sie sich: Würde ich etwa lieber nicht leben? Nein, dessen war sie sich in diesem Moment sicherer als je zuvor: Sie wollte leben. Denn so grausam diese Welt auch war, sie war einfach zu schön, um sie aufzugeben.
    Sie spürte, dass ihr ein Rinnsal Blut in den Nacken lief, und berührte die Wunde an ihrem Kopf. Sie hatte sich über dem fehlenden Knochenstückchen wieder geschlossen. Aber sie würde etwas brauchen, um ihren Kopf zu bedecken. Das einzige Kleidungsstück, das sie hatte, war der Patientenkittel. Sie musste etwas zum Anziehen finden. Und sie musste zu Donna. Doch viel Zeit blieb ihr diesmal nicht.
    Sie wusch sich das Blut mit dem brackigen Wasser aus dem See ab. Dann saß sie da und nahm die Gerüche um sich herum auf. Es ging ein leichter, rasch wechselnder Wind. Die Luft war warm. Auf diesem südlichen Breitengrad würde der |371| Herbst noch eine Weile auf sich warten lassen. Jetzt kam die Brise aus einer anderen Richtung, und plötzlich roch Lucy das Aroma von Kiefernharz. Sie sprang auf und lief dem leichten Windzug entgegen, der den Geruch herantrug. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde lang so schnell gerannt war, wie es ihr bei dem felsigen Gelände möglich war, traf sie auf ein Trockental. Sie stieg zu den Bäumen und dem schmalen Fluss hinunter, trank noch einmal und lief dem Wasserlauf folgend weiter. Sie wusste, man würde sie mit Infrarotgeräten verfolgen, sobald die Leiche gefunden worden war.
    Immer wieder blieb sie stehen, um zu lauschen.

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