Lucy
im Außenspiegel des Pick-up auf. Sie erschrak. Sie sah das traurige Gesicht eines Jungen mit hohlen Wangen und eingesunkenen Augen. Es sah aus, als versuchte der Schädel aus der blutleeren Haut hervorzubrechen, und der Mund war wie eine Naht im Gesicht. Beinah hätte sie die Hand gehoben und sich übers Gesicht gestrichen, um sicherzugehen, dass sie wirklich immer noch da war. Aber sie verbot es sich.
Lucy wusste, dass die Polizisten das frische Blut riechen konnten. Das konnte jedes Tier. Aber sie waren so sehr daran gewöhnt, ihre Sinneswahrnehmungen zu ignorieren, dass sie nicht mal registrierten, dass sie es rochen. Innerlich kämpften sie mit sich und versuchten herauszufinden, warum sie den alten Mann und den Jungen am liebsten festgehalten hätten. Aber in ihrem Denken, das einer strikten Logik folgte, ließ sich dafür kein vernünftiger Grund finden.
|381| Der alte Mann blickte stur geradeaus. Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es Lucy schien, gab ihm der Polizist seinen Führerschein schließlich zurück. Als der Pick-up wieder anfuhr, atmete Lucy befreit aus.
Der alte Mann sah sie an. »Was ist los mit deinem Kopf? Du blutest.«
»Ich bin hingefallen. Auf einen Felsen. Ist bloß ein Kratzer.«
»Was willst du in Albuquerque machen, wenn du da gar keinen kennst?«
»Ich hab da einen Freund. Er hat gesagt, ich kann bei ihm wohnen.«
»Wie alt bist du eigentlich?«
»Siebzehn.«
»Bist du nicht.«
»Okay, sechzehn.«
»Herrgott, ich könnt wieder im Knast landen. Ich muss den Verstand verloren haben.«
|382| 47
Eine Frau mittleren Alters saß am Empfang in der großzügigen Eingangshalle der Unternehmenszentrale von Denton’s. Jenny und Amanda stellten sich vor und trugen sich um 13.42 Uhr in die Besucherliste ein. Ein paar Minuten später trat Ruth Randall aus dem Aufzug und kam mit raschen Schritten auf sie zu. Ihre weißen Tennisschuhe quietschten auf dem Marmorboden. Sie umarmte ihre Besucher zur Begrüßung. »Es tut mir sehr leid, dass es so weit gekommen ist«, sagte sie. »Gehen wir doch hinauf. Sie beide hatten eine lange Reise.«
»Vielen Dank«, erwiderte Jenny. »Ja, wir sind ziemlich erschöpft.«
»Die Büros meiner Stiftung sind auch hier.«
Sie stiegen mit Ruth in den Aufzug und fuhren in eine Etage mit einem Großraumbüro hinauf. Durch die Vielzahl von Arbeitsnischen, die mit brusthohen Stellwänden voneinander abgetrennt waren, wirkte es labyrinthisch. Ruth führte sie weiter in einen Konferenzraum, und sie setzten sich an einen langen Tisch.
»Meine Arbeitsnische ist zu unaufgeräumt, und hier können wir uns ungestört unterhalten. Aber erst einmal lasse ich Ihnen etwas zu essen und zu trinken kommen.«
»Für mich bitte nur Wasser«, sagte Jenny.
»Ja, Wasser«, fügte Amanda hinzu.
Ein junger Mann war in der Tür erschienen. »Ian, bringen Sie uns doch bitte etwas Wasser, ja?«, sagte Ruth.
|383| »Aber gern«, erwiderte er.
Als der junge Mann sie mit Wasser versorgt hatte, ging er wieder und schloss die Tür hinter sich. »Hier können Sie offen reden«, sagte Ruth. »Der Raum ist schallisoliert.«
Jenny und Amanda sprachen abwechselnd und erzählten Ruth alles, was geschehen war. Ruth hörte hoch konzentriert zu und biss sich hin und wieder unwillkürlich auf die Unterlippe. Ihre blauen Augen schimmerten, als würde sie ihren Kummer mitempfinden.
»Wie furchtbar«, sagte Ruth schließlich.
»Wenn ich recht habe und sie geflohen ist«, fuhr Jenny fort, »dann versucht sie vielleicht, zu Ihnen zu gelangen. Weil Sie die Einzige sind, die sie in New Mexico kennt.«
»Wenn sie das tut, ist sie in Sicherheit«, sagte Ruth. »Lucy ist klug. Klug genug, um uns hier zu finden. Und bis dahin sollten Sie sich etwas ausruhen. Warum fahren wir nicht alle auf die Ranch hinaus?«
»Ja«, erwiderte Jenny. »Etwas Schlaf in einem richtigen Bett könnte ich gut gebrauchen.«
»Sie können im Moment ohnehin nur warten, bis Lucy Kontakt zu uns aufnimmt. Aber lassen Sie Ihren Wagen hier. Ich fahre Sie.«
Ruth fuhr sie in einem weißen Chevrolet Suburban mit dem Logo von Denton’s auf der Tür aus der Stadt hinaus in eine wilde gelb getönte Landschaft, durchsetzt von großen roten und braunen Felsen. Der Himmel war wolkenlos.
»Haben Sie und Ihr Ehemann Denton’s eigentlich zusammen gegründet?«, fragte Amanda Ruth.
»Nein, ich habe hineingeheiratet. Als ich Luke 1954 kennenlernte, war er Einzelhändler. Sein Großvater hatte einen Gemischtwarenhandel in Lawton,
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