Lucy

der einzige Weg, die Bonobos oder einige ihrer besten Fähigkeiten zu retten, bestehe darin, ausgewählte Exemplare mit dem Menschen zu kreuzen. Ihre Ausrottung sah Stone zwar als unausweichlich an, aber wenn es ihm gelänge, Gene der Bonobos ins Erbgut des Menschen einzuschleusen, würden ihre einzigartigen und überragenden Eigenschaften wenigstens zum Teil erhalten bleiben. »An ihre außergewöhnliche Liebenswürdigkeit und ihr Wahrnehmungsvermögen hatte ich von Anfang an mein Herz verloren«, schrieb er. Und Jenny begann ihn mit anderen Augen zu betrachten: Vielleicht war Stone gar nicht verrückt gewesen, sondern ein hervorragender Primatologe, der, konfrontiert mit der drohenden Ausrottung jener wunderbaren Lebewesen, denen er sein Leben verschrieben hatte, einen verzweifelten Schritt getan hatte. Jenny hegte ganz ähnliche Gefühle für die Bonobos. Das war es, was sie trotz der Gefahr Jahr um Jahr wieder in den Dschungel gezogen hatte. Aber ihr wäre es natürlich nie in den Sinn gekommen, das zu tun, was Stone getan hatte. Es war einfach zu weit hergeholt.
    Im Laufe der Jahre schien Donald Stone immer wieder zwischen stolzem Brustgetrommel und Selbstrechtfertigungen geschwankt zu haben. »Ich weiß, dass das, was ich getan habe, für einige völlig inakzeptabel ist. Aber auf diesen Vorwurf habe ich   – auch angesichts der Weltgeschichte   – zu entgegnen: |75| Die Menschheit hat die meisten Arten, mit denen sie in Kontakt kam, ausgerottet und ist inzwischen dabei, auch sich selbst mit großer Geschwindigkeit zu zerstören. Es muss sich etwas ändern in der menschlichen Natur. Und ich biete der Welt mit Lucy den Beweis, dass, auch wenn mein Tun ethisch fragwürdig sein mag, die Resultate untadelig sind. Jeder, der diesem faszinierenden, intelligenten und wunderschönen Mädchen begegnet, wird sie bewundern, ganz unabhängig von ihrer Herkunft. Kurzum, Lucy ist das beste Argument zu meiner Verteidigung. In ihr vereint sich die menschliche Intelligenz mit der Fähigkeit der Bonobos, die vielfältigen sensorischen Signale aus dem Großen Strom wahrzunehmen. Das und ihr sanftes und liebenswürdiges Sozialverhalten sind Beweis genug dafür, dass ich recht habe: Lucy ist Gestalt gewordene Liebe. Und wenn sich ihre Nachkommen und auch deren Nachkommen wiederum fortpflanzen, wird sich eine neue Spezies Mensch   – eine, die menschlicher ist als der Mensch   – entwickeln.«
    Jenny empfand eine bizarre Mischung aus Bewunderung und Ablehnung. Donald Stone hatte dieses reizende, kluge Mädchen mit der Absicht in die Welt gesetzt, eine neue Spezies zu züchten. So sehr er die Bonobos und Lucy auch geliebt hatte, es war etwas Perverses und Unmoralisches an dem, was Stone getan hatte, selbst wenn, wie er schrieb, das Resultat untadelig und wunderschön war. Und plötzlich beschlich Jenny der Gedanke: Sie werden sie töten, wenn sie es herausfinden. Die rechten religiösen Spinner. Die Medien. Die Wichtigtuer der Regierung. Die Irren und Durchgeknallten und der weiße Pöbel mit der Macht der Straße. Wie konnte sie Lucy schützen, wenn das herauskam?
    Es lagen noch viele andere Notizbücher da, doch Jenny war zu aufgewühlt, um sie zu lesen. Nur das letzte blätterte sie |76| noch durch und sah die mit zittriger Hand auf eine einzelne Seite hingekritzelten Worte: »Lucy, vergib mir.«
    Jenny sprang auf, lief in ihrem Arbeitszimmer auf und ab und versuchte, die möglichen Folgen abzuschätzen. Was hatte Stone nur getan? Und was hatte sie selbst getan, als sie Lucy hierher brachte? Sie drehte sich um, und auf einmal sah sie das Mädchen in der Tür stehen und sie beobachten.
    »Ich habe im Großen Strom eine Unruhe gespürt und wollte nachsehen, ob es dir gutgeht. Du hast hoffentlich nicht meinen Infekt bekommen.«
    In diesem Augenblick wusste Jenny, dass es keines weiteren Beweises mehr bedurfte. Alles, was sie gerade gelesen hatte, entsprach der Wahrheit. Der Große Strom. Natürlich. Stone selbst hatte davon gesprochen. Alle Tiere kommunizierten auf diese Weise miteinander. Im Dschungel hatte sogar Jenny es manchmal gespürt. Als Produkt der amerikanischen Kultur hatte sie allerdings dazu geneigt, es abzutun. Doch jetzt übermannten ihre aufgewühlten Gefühle sie, und eine Woge der Liebe für dieses Mädchen kam über sie, ein machtvolles Bedürfnis, sie vor dem Kommenden zu beschützen. Aber konnte sie das? Konnte Lucy in dieser Welt beschützt werden? Unfähig, bei Lucys Anblick an sich zu halten, brach