Lucy
Jenny in Tränen aus.
Lucy ging zu ihr, nahm Jenny fest in die Arme und klopfte ihr sanft auf den Rücken, wie man es mit einem Kind machen würde, das hingefallen ist. Sie reichte Jenny kaum bis an die Brust. So klein. So verletzlich. Und doch so kraftvoll. Jenny spürte, wie Lucys Energie sich auf sie übertrug. Jetzt glaubte sie, was Stone geschrieben hatte. Lucy war Wirklichkeit. Und Jenny wusste, dass niemand es jemals herausfinden durfte. Sie musste das Mädchen um jeden Preis beschützen.
»Was ist denn los? Was ist denn?«, fragte Lucy.
|77| Doch Jenny konnte nicht sprechen. Sie ließ ihren Tränen einfach freien Lauf. Das Arbeitszimmer war durchflutet von Sonnenlicht. Und das Eichhörnchen saß immer noch auf dem Baum und kreischte wegen des Habichts.
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Lucys erster Gedanke war, dass sie Jenny angesteckt hatte. Doch dann fiel ihr Blick auf die Notizbücher ihres Vaters, die um den Sessel verstreut lagen, und sie verstand. Sie hatte völlig vergessen, dass Jenny die Notizbücher aus der Hütte mitgenommen hatte. Jetzt wusste Jenny also über sie Bescheid, die Beweise, die sie bislang ignoriert hatte, strömten in einer einzigen großen Welle auf sie ein.
Lucy hielt Jenny in den Armen, während sie weinte. Schließlich fing Jenny sich wieder und hielt Lucy auf Armeslänge entfernt, um sie anzusehen.
»Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Tut mir leid. Ich wusste nicht wie.«
»Natürlich. Natürlich.« Jenny ließ Lucy los, drehte sich um und ging einige Schritte auf das Fenster zu. Dann wandte sie sich ihr wieder zu. »Mit den Angriffen der Rebellen, den Morden – es war alles so ein Wahnsinn, dass ich gar nicht richtig denken konnte. Aber ich hätte dir sowieso nicht geglaubt. Herrje, ich kann noch gar nicht einschätzen, was es bedeutet. Ich mache mir Sorgen um dich, Lucy.«
»Papa hat mich gewarnt, dass die Leute mir nicht glauben würden. Oder dass sie mich töten wollten, wenn sie es doch tun. Aber er sagte, dass es auch Gute gebe. Gute Menschen. Und ich habe gespürt, dass es dir nichts ausmachen würde, dass ich kein Mensch bin.«
»Du bist ein Mensch. Du bist ebenso ein Mensch wie ich. Du unterscheidest dich nur darin, dass du … Ich weiß auch |79| nicht. Du hast irgendwelche anderen Gene. Ein Albino ist auch anders. Es gibt alle möglichen verschiedenen Menschen. Du bist ein Mensch«, wiederholte Jenny, als wollte sie sich selbst überzeugen. »Du bist ein Mensch.«
»Schon gut, Jenny. Ich weiß, was ich bin. Ich bin etwas vollkommen Neues. Papa hat dafür gesorgt, dass ich mir keine Illusionen darüber mache, wie die Menschen reagieren können.«
»Das ist wirklich wahr, oder? Es ist nicht irgendein schlechter Scherz?«
»Es ist wahr.«
»Und dann war das deine Mutter? Das tote Bonobo-Weibchen in der Hütte?«
»Ja. Leda.«
»Es tut mir so leid.«
»Ich weiß.«
»Was war der Plan? Ich meine, ich versuche wirklich, es zu verstehen. Was hatte dein Vater letzten Endes mit dir vor? Was um Himmels willen hat er sich dabei gedacht? Er schreibt etwas von Züchtung, als wenn du eine Zuchtstute wärst. Wie konnte er dir das nur antun?« Jenny fühlte sich, als müsste sie gleich wieder anfangen zu weinen, doch sie hielt die Tränen zurück. »Warum tut jemand einem Kind so etwas an?«
»Wir wollten nächstes Jahr nach London ziehen. Darauf hat er mich mein ganzes Leben lang vorbereitet. Ich sollte in England aufs College gehen. Den Leuten hätte Papa erzählt, dass seine Frau im Kongo an einer Krankheit gestorben ist. Papas Vorstellung war, dass ich die Eva einer neuen Spezies Mensch sein würde.«
»Dann solltest du also Kinder bekommen?«
»Ja. Vorausgesetzt, dass ich schwanger werden kann. Das war immer eine Frage. Ist es heute noch. Aber wenn, dann |80| sollte ich meine Kinder dazu erziehen, Anführer, Lehrer, Denker zu werden. Und sie würden wieder Kinder haben … und so weiter.«
»Züchtung … Er hat dich zur Züchtung erschaffen. Oh Gott.«
»Ja, aber auch, weil er die Bonobos liebte. Er hoffte, so würden sie der Ausrottung entgehen, zum Teil wenigstens. Papa hat sich ausgemalt, dass sich die neue Spezies vielleicht schon nach tausend Jahren Geltung verschaffen könnte, weil sie alle Vorteile einer bereits erfundenen materiellen Kultur nutzen kann. Und die Sprache.«
Jenny sank schwer in ihren Sessel, atmete tief ein, atmete aus. Dann stieß sie ein zittriges Seufzen aus, sah auf und blickte Lucy an. »Verstehst du, wie verrückt das
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