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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Pfund.«
    »Oh Gott«, rief Jenny. »Oh Gott.«
    Jetzt ergab alles einen Sinn. Das seltsame Verhalten, das Nest im Baum, die ungewöhnliche Kraft des Mädchens. Die wilden Ausbrüche. Ihre feinen Sinne   … Mit einem Mal fiel Jennys wissenschaftliche Neugier von ihr ab und sie spürte nur |72| Liebe und Mitgefühl für dieses Kind. Jenny wurde geradezu überwältigt von Gefühlen: Sie war wütend auf Stone, auf seinen Größenwahn, auf seinen Mangel an Empathie. Sie machte sich Sorgen um Lucy und das, was ihr bevorstehen würde. Als Wissenschaftlerin faszinierte es auch sie, jemanden beobachten zu können, der halb Bonobo war. Doch zugleich versuchte sie die Folgen der Situation abzuschätzen, in der Lucy und sie sich jetzt befanden. Denn schlagartig wurde ihr klar, dass sie tief mit drinsteckte. Vielleicht sogar bis über den Kopf.
    Jenny las weiter, auch wenn es ihr den Magen umdrehte. »Ich untersuchte das Baby nach der Geburt eingehend und stellte fest, dass das Mädchen in jeder Hinsicht normal entwickelt war und vollständig einem Menschen glich. Damit war die wichtigste Hypothese meines Experiments bewiesen, dass nämlich der Mensch an einen vorteilhafteren Punkt seiner Evolutionsgeschichte versetzt werden kann, in eine Daseinsform, die ihm einige der überlegenen Fähigkeiten unserer Bonobo-Verwandten beschert. Und das gibt mir die Hoffnung, dass sich auf diese Weise allmählich eine neue Spezies Mensch entwickelt, die ausgestattet ist mit der Intelligenz und der Sprechfähigkeit des Homo sapiens, aber stärker den Bonobos gleicht und so besser befähigt ist, in Harmonie mit der Natur zu leben. Möge diese neue Spezies Mensch also von diesem Stamme ihren Ausgang nehmen, den ich hiermit der Zukunft überantworte.«
    »Er ist verrückt geworden«, sagte Jenny. Das war die einzige Erklärung. Egal, ob er die Wahrheit schrieb oder nicht, er war total verrückt geworden. Vielleicht gab es irgendwo doch eine ganz normale Mutter und Stone selbst war einfach nur schizophren. Lucy wirkte in vieler Hinsicht wie ein völlig normales Mädchen. Vielleicht war das hier bloß Donald Stones psychotische Fantasiewelt. Dabei wusste Jenny sehr gut, dass |73| moderne genetische Techniken das tatsächlich ermöglichen konnten: Stone hätte wirklich einen Bonobo-Mensch-Hybriden schaffen können. Und wenn er es getan hatte, dann lag das Resultat seines Experiments gerade im Wohnzimmer auf dem Fußboden und las ein Vampirbuch von Stephenie Meyer.
    Mit zitternden Händen und trockenem Mund blätterte Jenny eilig die Kapitel über Lucys frühe Kindheit durch, über die Säuglingspflege und dann die rasche sprunghafte Entwicklung zu einem lebhaften Kleinkind. Als Lucy vier Monate alt war, flog Stone mit ihr nach London, um ihr einen Reisepass zu verschaffen: jenen, den Jenny aus Stones Hütte mitgenommen hatte. Und im Jahr darauf notierte Stone dann: »Lucy ist eindeutig ein aufrecht auf zwei Beinen gehendes Lebewesen und zeigt alle Anzeichen eines normalen und ihrem Alter angemessenen Spracherwerbs.« Beim Durchblättern der Seiten las Jenny die Wörter, die Lucy sagte, wie Leda, Papa, Buch, Ball und »Nane« für Banane. Stone beschrieb, wie er, als Ausgleich für Lucys Erziehung zum Menschen, Leda erlaubte, sie in den Urwald mitzunehmen und ihr die Fähigkeiten ihrer Cousins und Halbgeschwister (denn Leda hatte danach noch weitere Junge von Bonobovätern geboren) und anderer Verwandter beizubringen. Jahr für Jahr hielt er Lucys Fortschritte akribisch fest.
    Um die Zeit ihres vierten Geburtstags herum schien Stone in einen Gewissenskonflikt zu geraten. »Lucy hat sich zu einem wirklichen und vollkommenen Menschen entwickelt«, schrieb er. »Jetzt erkenne ich, dass mein mit den besten Absichten ausgeführtes Experiment sich als der monströseste Wahnwitz überhaupt erweisen könnte. Was ich mir in meiner Begeisterung als junger Wissenschaftler als die Rettung der Bonobos vorgestellt habe   – und vielleicht der Menschheit   –, |74| könnte sich leicht als die schlimmste Strafe für dieses liebe Kind erweisen, das ohne eigenes Verschulden in diese grausame Welt gekommen ist.« Er hatte also, dachte Jenny, wenigstens Reue empfunden. Vielleicht war er doch kein Monster.
    Stone schrieb weiter, als wollte er sich selbst erklären, wie er so etwas hatte tun können. Es hatte alles mit seiner Begeisterung für die Bonobos begonnen und mit seiner Gewissheit, dass die Menschen diese wunderbaren Lebewesen ausrotten würden. Er glaubte,

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