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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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zu Lucy um, und eine große Sympathie für das Mädchen überkam sie. »Du hast recht. Es ist ein großes Rätsel, wie es so weit kommen konnte, dass wir so leben.«
     
    Bald darauf setzte Jenny ihren ersten Plan in die Tat um und machte mit Lucy eine Reise, hinauf in das Naturschutzgebiet Boundary Waters. Schon am Abend packte sie Kleidung und Proviant in Segeltuchtaschen und lud alles ins Heck ihres alten verbeulten Toyota-Kombis. Am nächsten Morgen machten sie sich bereits vor Sonnenaufgang auf den Weg Richtung Norden. Lucy konnte kaum glauben, wie weit sich die Stadt ausdehnte. Die Häuserreihen schienen gar kein Ende zu nehmen. So viele Menschen, dachte Lucy. Wer hätte gedacht, dass es so viele gibt? Den ganzen Highway entlang standen große Schilder mit Fotografien von Menschen darauf, die sie anzuschreien schienen, und deren Botschaft immer dieselbe war: mehr wollen, mehr kaufen, mehr haben.
    Als die Stadt irgendwann schließlich doch endete, fuhren sie weiter durch Felder voller Getreide. Lucy sah eine Schar |87| Stärlinge mit rotgefiederten Flügeln aus den Feldern aufsteigen und zu einer solchen Größe anwachsen, dass sie beinahe die Sonne verdunkelte. Die Vogelschar drehte sich wie ein Wirbelwind am Himmel und verschwand wieder wie Rauch, der sich auf unerklärliche Weise in dem feurigen Grün und Gelb der Getreideähren verlor.
    Dann verließen sie den Highway und nahmen die Landstraßen. Lucy war erleichtert. Kleine Straßen waren übersichtlicher, und das Auto fuhr auch viel langsamer dort. Sie sah kleine Städte, viele Bäume und normale Menschen. Außerhalb einer dieser Kleinstädte hielten sie bei einem Bauernhof an, der Milchwirtschaft trieb und auf dem auch Käse gemacht wurde. Lucy fand die Bauersleute sehr nett, die dicke Frau in dem fleckigen abgetragenen geblümten Kleid und auch den dünnen grauhaarigen Mann in der Latzhose. Die beiden hatten eine Tochter in Lucys Alter, die wie gebannt vor einem kleinen Fernseher saß und nicht mal aufsah, um zu schauen, wer da gekommen war. Sie war einer der ersten Teenager, die Lucy aus der Nähe zu Gesicht bekam. Lucy hätte sie gern berührt und mit ihr geredet, doch das Mädchen schien so vertieft, dass Lucy sich nicht traute, sie zu stören. Lucy fragte sich, wie es wohl wäre, so zu sein wie sie.
    Jenny kaufte Käse und Brot, und sie beide setzten sich hinaus auf eine Wiese voller Klee und aßen. Der Käse war süßlich streng und hatte kleine Zuckerkristalle. Lucy legte sich ins kühle Gras, in dem die Bienen summten. Als sie den Käse und das Brot schließlich aufgegessen hatten, sah Jenny, wie Lucy mit den Fingern in der feuchten Erde grub und eine frische Larve an den Mund führte. Lucy bemerkte ihren Blick und lächelte schuldbewusst. »Entschuldige.«
    »Schon okay.« Höflich sah Jenny weg, und Lucy steckte sie in den Mund.
    |88| Am Nachmittag durchquerten sie Duluth, und eine Stunde später erreichten sie den »Gunflint Trail«. Der alte grüne Kombi tauchte in die Wälder ein, und sosehr sich diese auch vom kongolesischen Dschungel unterschieden, beim Anblick der alten Bäume fühlte Lucy sich gleich zu Hause. Der Wald war dicht und kühl und moosbewachsen. Die Gerüche und Lebewesen waren alle ganz anders als die, die sie kannte.
    In der Abenddämmerung erreichten sie die Hütte, die Jenny gemietet hatte. Sie lag am Rande eines Sees, und im Inneren erwarteten sie rustikale Kiefernmöbel, bunte Blümchengardinen und ein Holzofen. Fürs Abendessen schnippelten Jenny und Lucy in der Küche gemeinsam Gemüse für eine Suppe. In dieser Nacht schlief Lucy zum ersten Mal, seit sie aus dem Dschungel fort war, wieder richtig gut. Es schien alles schon so lange her zu sein. Von ihrem Bett aus konnte sie das Mondlicht durch die Bäume fallen sehen, und sie hörte die Geräusche des Waldes. Nirgends künstlicher Lichtschein, kein Nebel, kein Maschinenlärm.
    Die Hütte stand einsam im Wald und das Wetter war warm. Lucy schlief nackt und zog sich auch am nächsten Morgen gar nicht erst an. Jenny machte es nichts aus. Sie lebten beide auf hier im Wald, denn sie hatten beide den Urwald vermisst. Jenny zeigte Lucy, wie man ein Kanu paddelte, und gemeinsam fuhren sie auf den See hinaus. Ein Rabe flog dicht über ihre Köpfe hinweg und zerriss mit einem lauten Krächzen die Stille. An den Nachmittagen hackte Jenny Holz oder saß auf der Terrasse in der Sonne, trank Eistee und sah zu, wie Lucy im Wasser planschte. Abends lasen sie einander etwas vor oder

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