Lucy
trugen aus dem Gedächtnis Geschichten und Gedichte vor.
Lucy verbrachte viele Stunden mit Erkundungen. Draußen im Wald tauchte sie wieder ein in den Großen Strom und lernte neue Signale von Rotwild, Elch, Rotfuchs und Timberwolf. |89| Maus. Hase. Adler. Biber. Sie sah nur wenige Menschen dort draußen, und die wenigen Male, wenn sie auf jemanden traf, war sie stets bestens vorgewarnt, denn die Leute waren so laut. Lucy brauchte nur rasch einen Baum hinaufzuklettern und konnte ihre Erkundungen fortsetzen, sobald die anderen vorüber waren. Die wären alle eine leichte Beute, dachte Lucy.
Und so bemerkte Lucy kaum, dass ihre Selbstgewissheit sie leichtsinnig machte. Denn nicht alle Menschen waren gleich. Das lernte sie, als sie von einem leisen überrascht wurde. Als sie ihn sah, hatte er sich schon auf Sichtweite an sie herangeschlichen. Sie sah ihn nur flüchtig. Es war ein etwa dreizehnjähriger Junge mit einer Kamera um den Hals. Lucy rannte davon und war im Nu verschwunden, doch der Zwischenfall beunruhigte sie. Von da an war sie bei ihren Erkundungen vorsichtiger, und sie wurde auch nicht mehr entdeckt.
Wenn es abends kühl wurde, zogen Jenny und Lucy Pullover an und machten am Seeufer ein Feuer. Sie saßen da, aßen Weintrauben und sahen zu, wie ein Sternbild nach dem anderen am Nachthimmel erschien und die Satelliten ihre Bahn gen Norden zogen. Lucy lauschte auf die Grillen, die erzählten, was an diesem Tag geschehen war und am Tag zuvor und während ihrer langen Geschichte auf Erden. Ihre Stimmen waren sehr hoch, doch Lucy konnte sie dennoch verstehen. Es klang, als stimmte ein Chor gregorianische Gesänge an. Ihr Vater hatte sie gelehrt: Grillen sammeln ihre Erinnerungen und singen von ihnen. Sie reden so viel, weil sie so viel zu erzählen haben. Einige Vögel taten das auch, und Lucy saß gern frühmorgens draußen und hörte zu, wenn sie in Erinnerungen schwelgten an die Zeiten der Dinosaurier.
Als sie eines Abends nach dem Essen wieder draußen am Seeufer saßen, fragte Lucy Jenny, woher sie eigentlich komme. »Du weißt viel mehr über mich als ich über dich.«
|90| »Ach, das ist ziemlich langweilig. Ich wuchs in dem Haus auf, in dem wir wohnen. In dem Haus meiner Mutter. Früher war es natürlich auch das Haus meines Vaters, aber er starb, als ich noch in der Grundschule war. Und so war es für mich immer das Haus meiner Mutter.«
»Dann haben wir also beide relativ jung unseren Vater verloren. Es tut mir leid. Wie ist er gestorben?«
»An einem Herzinfarkt. Als ich größer wurde, erkannte ich, dass ich ihn gar nicht richtig kennengelernt hatte. Er und meine Mutter bekamen mich erst spät im Leben. Mein Vater war Anwalt, Strafverteidiger, ein sehr erfolgreicher, aber das hieß auch, dass er oft weg war. Und dann war er plötzlich für immer weg.«
»Und was, glaubst du, bringt die Zukunft?«
»Nun, ich werde wieder an der Universität unterrichten. Ein paar Aufsätze schreiben. Und ehrenamtlich im Mädchenheim arbeiten.«
»Im Mädchenheim?«
»Ja. Das ist ein Haus für Mädchen, die missbraucht wurden und nicht wissen, wohin sie gehen sollen.«
»Was heißt das: missbraucht?«
»Geschlagen. Vergewaltigt. Aber es sind auch Mädchen dort, die einfach kein Zuhause haben, weil ihre Eltern nicht mehr da sind.«
»So wie ich.«
Jenny sah Lucy an, und ein trauriges Lächeln trat in ihr Gesicht. »Nein. Das ist kein Ort für dich. Ich möchte, dass du bei mir aufwächst. Aufs College gehst. Und etwas findest, dem du dein Leben wirklich widmen willst.«
Die Köpfe einander zugeneigt saßen sie vor dem Feuer. Jennys Gesichtsausdruck wirkte geradezu königlich in den harten Schatten, während Lucy eher listig dreinblickte. Ihre |91| Augen schienen unter ihrem dichten Haar geradezu hervorzuglühen.
»Weißt du, was ich glaube?«, sagte Lucy schließlich. »Dass mich irgendwer in ein Labor bringen und Experimente mit mir machen wird.«
»Das lasse ich nicht zu. Ich werde niemals zulassen, dass dich irgendwer irgendwohin bringt. Niemals.« Einen Moment lang schwieg Jenny und ließ das wirken. »Außerdem wird es sowieso nie jemand erfahren. Die Leute werden nur eins erfahren, nämlich dass du ein normales amerikanisches Mädchen bist.«
Ein paar Tage darauf waren sie auf dem Heimweg und hielten beim Supermarkt in Duluth, um ein paar Snacks für die Fahrt zu kaufen. Chips essend gingen sie zu ihrem Auto zurück, und Jenny las die Zutatenliste auf der Tüte. »Ich gehöre eingesperrt dafür,
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