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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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ernst.«
    Wieder verfielen sie in Schweigen und aßen getrocknete Früchte. Lucy fuhr mit dem Zeigefinger die Kerben entlang, die sich in das Felsgestein eingegraben hatten.
    »Wollen wir langsam weiter?«, fragte Amanda.
    »Okay. Aber lass uns einen anderen Weg zurück nehmen.« »Kennst du einen anderen Weg?«
    »Ja.«
    Sie zogen sich wieder an, schulterten ihre Rucksäcke und gingen am westlichen Seeufer in Richtung Süden. Nach einer Meile tauchten sie in den alten Wald ein, diesen so dunklen und seltsamen Wald. Lucy spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie kannte diesen Wald, es war der Dschungel des Nordens. Je tiefer sie in ihn eindrangen, desto weniger war vom Himmel zu sehen, es umfing sie die Dunkelheit einer Wildnis, in der Leben und Zerstörung sich einen unablässigen Kampf lieferten. Hier und dort brachen sich dicke Lichtsäulen oder auch schmale Streifen von Tageslicht Bahn und leuchteten |175| hinein in einen nach Nelken und Myrrhe riechenden Dunst, in den sich das Aroma verrottenden Laubs mischte.
    »Es ist so schön hier.«
    Lucy ging voran durch die alten Kiefern und Tannen, die voll uralter silbriger Moosflechten hingen und über einem enormen Gewirr von Totholz, Dickicht und Kletterranken emporragten. Sie verließen den Pfad und traten in eine ewige Dämmerung, wo plötzlich ein leuchtendes Dunkel im Wald aufschimmerte und sich weit vor ihnen ausbreitete. Erst als ein leichter Wind das Wasser kräuselte, erkannte Amanda, dass sie einen tiefen dunklen See vor sich hatten. Sie traten ans Ufer und sahen Fische darin schwimmen.
    Plätschernd umspülten leichte Wellen das Kiesufer, und als ein Windstoß herankam, raschelte leise das Espenlaub. Von irgendwo im Wald hörten sie etwas wie ein Niesen.
    »Ein Bär«, sagte Lucy.
    »Ist er gefährlich?«, fragte Amanda.
    »Nein.«
    »Ich hab ein bisschen Angst, Lucy. Es ist so unheimlich. Schön, aber unheimlich.«
    Lucy spürte, wie Amanda nach ihrer Hand griff, als sie Seite an Seite dastanden und auf das Wasser hinausblickten. Sie umfasste Amandas Taille, und Amanda lehnte sich an sie. So standen sie einen Augenblick lang da, bis Amanda sich zu Lucy umdrehte. Lucy konnte noch die warme Sonne auf der Haut ihrer Freundin riechen. Dann küssten sie sich. Ein Gefühl der Wärme durchströmte Lucys Körper. Amandas Lippen waren weich und ihre Zunge schmeckte süß. Und dann war es, einfach so, wieder vorbei. Bebend hielten sie einander noch einen Augenblick fest.
    »Du schmeckst lecker«, sagte Amanda, und da mussten sie plötzlich lachen, und der Bann war gebrochen.
    |176| Den restlichen Weg zurück zur Hütte wanderten sie beide in ihre eigenen Gedanken versunken. Jenny begrüßte sie mit kaum verhohlener Erleichterung. Sie hatte einen Schmortopf mit Thunfisch im Ofen. Kerzenlicht schimmerte in der Hütte und an den Kiefernholzwänden tanzten die Schatten. Jenny hörte sich beim Essen all ihre Abenteuer an, und Amanda zeigte ihr auf dem Display ihrer Digitalkamera das Foto der Elchkuh, das sie gemacht hatte.
    »Wussten Sie übrigens, dass Ihre Tochter auf Bäumen schläft, Jenny?«
    Lucy sah Jenny bei der Frage leicht zusammenschrecken. Sie beruhigte sich jedoch gleich wieder und lächelte. »Ja, das ist mir schon zu Ohren gekommen.«
    Nach dem Abendessen fühlte Lucy sich sehr müde und entschuldigte sich bald, um früh zu Bett zu gehen. Jenny und Amanda machten Feuer und verbrachten den restlichen Abend plaudernd vor dem Kamin. Lucy konnte das Gemurmel ihrer Stimmen und ihr Gelächter hören, während sie immer mehr zu frösteln begann. Das Letzte, woran Lucy sich später erinnerte, war, dass Amanda zu ihr ins Bett schlüpfte und gleich wieder hinaussprang, als hätte sie sich verbrannt.

|177| 18
    Es war fast zehn Uhr, als Amanda Jenny gute Nacht sagte. Jenny wollte noch ein bisschen lesen, bevor auch sie zu Bett ging. Doch schon einen Augenblick später kam Amanda mit besorgter Miene wieder aus dem Schlafzimmer der Mädchen gelaufen. »Sie sollten lieber mal einen Blick auf Lucy werfen. Ich glaube, sie ist krank.«
    Jenny fühlte, wie eine Welle der Angst sie überspülte. Sie lief mit Amanda an Lucys Bett. Lucy hatte sich die Decke bis ans das Kinn hochgezogen, doch sie zitterte trotzdem. Als Jenny ihr eine Hand an die Wange legte, stöhnte sie leise.
    »Was hat sie nur?«, fragte Amanda.
    »Ich weiß auch nicht. Bleib bei ihr. Ich hole ein Thermometer.«
    Lucy hatte 39,5   Grad Fieber und schien gar nicht richtig bei Bewusstsein. Jenny

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