Lucy
an und erzählte ihr, dass sie erst einige Tage später als geplant nach Hause kommen würde. Jenny hörte, wie Amanda sie beschwichtigte: »Mir geht’s gut, Mutter. Ich fühle mich gut.« Und: »Nein, ich will bei Lucy bleiben. Warum? Weil es das Richtige ist.« Dann hielt sie mit einem empörten Blick Jenny den Telefonhörer hin. »Sie will mit Ihnen sprechen. Sie hat Angst, dass ich auch krank werde.«
Jenny versicherte Amandas Mutter, dass ihre Tochter nicht im Wege sei, sondern im Gegenteil sogar eine große Hilfe. Und sie betonte, dass es nicht ratsam sei, wenn Amanda gerade jetzt nach Hause fuhr. Die zwei Mädchen seien dauernd zusammengewesen, und sollte Amanda sich mit irgendetwas angesteckt haben, sei sie in Duluth viel besser aufgehoben. Schließlich sei sie hier in einem Krankenhaus. »Aber als Mutter«, sagte Jenny, »weiß ich natürlich, wie Sie sich fühlen.« So etwas hatte sie noch nie gesagt. Doch nun erfuhr sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was es wirklich hieß, Mutter zu sein: Es gab ein Schicksal, das schlimmer war als der eigene Tod.
»Okay«, sagte Amandas Mutter schließlich. »Okay, aber bitte passen Sie gut auf meinen Schatz auf.«
Jenny und Amanda blieben die ganze Nacht bei Lucy. Das einzige Lebenszeichen, das sie gab, war ein gelegentliches Zucken ihrer Muskeln, begleitet von einem durchdringenden, animalischen Schrei. Die Nachtschwester kam und wechselte den Infusionsbeutel, der am Tropf hing. Jenny und Amanda versuchten, in den Sesseln ein wenig Schlaf zu finden, doch |181| es war nahezu unmöglich. Als das erste Tageslicht durch die Vorhänge schimmerte, stand Jenny auf und wusch sich das Gesicht.
Schließlich kam der behandelnde Arzt zu ihnen. »Gehen wir in mein Büro«, sagte er, »dort können wir uns unterhalten.« Dr. P. Syropoulos stand auf seinem Namensschild.
Amanda und Jenny folgten ihm den Korridor entlang. Der Arzt schloss die Tür hinter sich und sah sie ernst an. Jenny spürte, wie Furcht in ihr hochstieg, als Dr. Syropoulos begann. »Nun, im Grunde habe ich eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie. Lucy hat Enzephalomyokarditis oder kurz EMCV. Das ist eine sehr schwere Krankheit, die von einem Virus ausgelöst wird, das Gehirn und Herz befällt.«
Jenny erschrak bis ins Innerste. Jetzt wusste sie, was sie tun musste. Es war sinnlos, darum herumzureden. Wenn er auf das hinauswollte, worauf er ihrer Meinung nach hinauswollte, dann blieb ihr nur noch eines übrig: Sie musste Zeit gewinnen. Und damit sollte sie am besten sofort beginnen.
»Was? Aber was heißt das denn?«, rief Amanda.
Jenny legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann wandte sie sich an den Arzt. »Ja, ich weiß. Man kann EMCV mit dem Poly- L-Lysin -Komplex behandeln, aber es bildet gewöhnlich gar keine Symptomatik aus.«
Er sah sie überrascht an. »Sind Sie Ärztin?«
»Nein, ich bin Dozentin für Anthropologie an der Universität von Chicago.«
»Verstehe. Nun, dann wissen Sie sicher, dass Lucy vermutlich wieder vollkommen gesund wird. Wir haben begonnen, ihr PLL zu geben, das, wie Sie ganz richtig bemerken, die angezeigte Therapie ist. Zum Glück haben wir sie innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden behandeln können. Sie |182| können sich also gratulieren, dass Sie Lucy so schnell hierher gebracht haben. Und wir hier am Mercy Hospital können uns gratulieren, dass wir so viele gute Serologen haben. Denn offen gesagt, ich weiß nicht, ob ich ohne meine Kollegen im Labor so schnell erkannt hätte, womit wir es zu tun haben. Wir dürften schon morgen eine Besserung bei Lucy feststellen können.«
»Sie wird also wieder ganz gesund?«, fragte Amanda.
»Ja, das wird sie.«
»Das ist wirklich eine gute Nachricht«, sagte Jenny. »Großartig. Wann, glauben Sie, kann sie nach Hause?«
»Ist es ansteckend?«, schaltete Amanda sich noch einmal ein. »Meine Mutter will das wissen. Ich werde eigentlich nie krank.«
»Nun, das bringt mich zu meinem nächsten Punkt, was Lucys Krankheit angeht. Ja, EMCV ist tatsächlich ansteckend. Sie hat eine Variante des Virus namens EMCV 30 / 87. Das Problem ist nur …« Es schien, als wollte er nicht weitersprechen. Er nahm die Brille ab und ließ den Blick durch den Raum wandern, als sei er blind geworden.
»Was denn?«, fragte Amanda.
Jenny spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie ahnte bereits, was er sagen würde, denn es gab da tatsächlich einen Haken. Doch sie hatte gehofft, dass er
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