Lucy
schüttelte noch einmal den Kopf. »Das arme Mädchen. Sie hat großes Glück, dass sie dich hat.«
»Tja, wir werden sehen.«
|209| 22
Jenny schreckte ruckartig aus tiefem Schlaf hoch. War etwas passiert? Doch als ihr Blick auf die Mädchen fiel, die in der Tür standen, sah sie, dass die beiden ganz albern waren vor lauter Aufregung. »Komm, Mom«, rief Lucy. »Es ist fertig. Du musst es dir anschauen.«
Jenny sah auf die Uhr. »Es ist zwei Uhr morgens.«
»Aber nicht in Japan«, sagte Amanda. »Das Internet schläft nie.«
Sie führten Jenny die Treppe hinunter und setzten sich mit ihr aufs Sofa, die eine links, die andere rechts. Lucy legte Jenny das Notebook auf den Schoß. Jenny gähnte, und Lucy drückte eine Taste. Tom Pettys Song
American Girl
erklang vor einem schwarzen Hintergrund, der sich mithilfe eines Zooms von Google Earth langsam in eine immer rasanter werdende Bilderfahrt wandelte, die aus den dunklen Weiten des Weltalls direkt in den grünen Dschungel des Kongos hinein führte. Dann verklang der Song, und Lucy erschien auf dem Bildschirm.
»Hi, ihr alle da draußen. Ich bin Lucy Lowe, und ich bin nur zur Hälfte Mensch. Ihr haltet dieses Video vielleicht für irgend so einen YouTube-Scherz, aber das ist es nicht, wie ihr gleich sehen werdet. Heute ist Mittwoch, der 25. Juni 2007, und mir wird gerade Blut abgenommen von der amerikanischen Gesundheitsbehörde.« Es folgte ein Schnitt, und im Bild erschien die junge Ärztin Roberta Dyson, die Lucy am Oberarm eine Druckmanschette anlegte, während Lucy aus dem Off weitererzählte.
|210| »Sie wollen eine Analyse meines Erbguts machen, und die wird beweisen, was ich euch jetzt hier sage: Dass meine Mutter ein Bonobo war.« Lucys Gesicht tauchte wieder auf dem Bildschirm auf. »Ich wende mich an euch, um euch meine Geschichte zu erzählen. Denn es ist mir lieber, dass ihr sie von mir erfahrt als von irgendeiner Regierungsbehörde. Deshalb machen meine Freundin Amanda und ich dieses Video. Sag hallo, Amanda.«
Tränen traten Jenny in die Augen, während sie zusah. Tränen, die von allem Möglichen herrührten, von Freude und Stolz auf die Mädchen bis hin zu Furcht vor dem, was vor ihnen lag. Jetzt, in diesem Augenblick, waren die beiden so begeistert, als hätten sie der Welt gerade den herrlichsten Streich gespielt, der sich denken ließ. Aber nicht alle würden so hocherfreut sein. Amanda kam ins Bild und setzte sich neben Lucy. »Hallo an die ganze Welt. Ich bin Lucys beste Freundin, Amanda Mather. Und Lucy sagt euch hier wirklich die Wahrheit, absolut. Aber sie soll selbst erzählen, wie das alles passiert ist.«
Jenny spürte einen dicken Kloß im Hals, während Lucy den Zuschauern ihre Lebensgeschichte in allen Einzelheiten erzählte, angefangen bei der Erklärung, was Bonobos sind, bis hin zu dem Wunschtraum ihres Vaters. Lucy zeigte Seiten aus Donald Stones Notizbüchern, und die Mädchen lasen Passagen daraus vor. »Ich weiß, manchen von euch kommt vieles davon wohl ziemlich schrecklich vor«, sagte Lucy. »Aber ich erzähle nur, was passiert ist.« Sie zeigte das Foto, das Jenny aus Stones zerstörtem Camp im Kongo gerettet hatte, und sprach von ihrer Flucht vor dem Bürgerkrieg und von der beschwerlichen Reise flussaufwärts. Sie berichtete von ihrem ersten Tag in der Schule, von all den auf sie einstürmenden Eindrücken, und wie Amanda ihr geholfen hatte.
|211| Dann folgte Amanda Lucy mit der Kamera durchs Zimmer. In dem einen Jahr, das Lucy es jetzt bewohnte, hatte sie es ganz zu ihrem eigenen gemacht. Sie hatte ein Zweisitzersofa mit geblümtem Bezug und eine ganze Sammlung an Stofftieren. Sie hatte Poster von Schauspielern und Sängern an den Wänden und auch einige Fotos von sich selbst, Amanda und anderen Teenagern aus der Schule. Lucy zeigte auf einen der Pokale, die sie beim Ringen gewonnen hatte. »Ach, und das hätte ich ja fast vergessen. Einige von euch wissen vielleicht, dass ich in Illinois einen Meistertitel im Ringen habe.«
»Los, Lucy, jetzt den Würfel«, rief Amanda aus dem Off, ehe sie selbst ihr Gesicht in die Kamera hielt. »Lucy ist nämlich auch eine Meisterin mit dem Zauberwürfel. Zeig’s ihnen, Luce.« Die Kamera zeigte nun eine mitten in ihrem Zimmer stehende Lucy. Amandas Hand erschien im Bild und hielt Lucy einen Zauberwürfel hin, dessen sechs Flächen farblich bunt gemischt waren. Lucy griff nach dem Würfel, wendete ihn mehrmals in den Händen und betrachtete ihn von allen Seiten. Und dann
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