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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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in jenen Tagen, als sie noch ein Lieblingsrestaurant gehabt hatten. Es hatte eine schöne Aussichtsterrasse im zweiten Stock, von der aus man auf eine Reihe malerischer Hippieläden im älteren Teil von Chicago hinunterblicken konnte. Die Sonne war bereits untergegangen, und in den Läden brannte Licht. Sie saßen unter einer großen Markise, während ein leichter Sommerregen niederging. Der Asphalt schimmerte im Licht der Straßenlaternen und Autoscheinwerfer, und Menschen mit Regenschirmen in der Hand eilten die Gehwege entlang.
    Jenny breitete die Geschichte so einfach wie möglich vor Harry aus. Seine Ruhe im Angesicht einer solch unerhörten Neuigkeit überraschte sie nicht. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich immer zu Harry hingezogen gefühlt hatte. Sie hätte ihm erzählen können, dass man ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte und ihr Haar in Flammen stand, und er hätte nur gesagt: Hmm   … dann schauen wir uns die Sache mal näher an.
    »So etwas Ähnliches habe ich mir im Grunde schon gedacht«, sagte Harry, als er die Information verdaut hatte. »Nicht gleich am ersten Abend, als ich sie untersuchte. Aber |206| du warst so wortkarg, als ich fragte, warum du ihre Blutprobe wiederhaben willst, dass ich immer weiter über mögliche Erklärungen dafür nachdachte. Und Lucys Andersartigkeit hat mich von Anfang an frappiert. Ich dachte: Ist das irgendein Joseph-Conrad-Albtraum? Doch dann sagte ich mir: Ach was, das ist völlig unmöglich. Ich habe mir einfach selbst nicht erlaubt, es zu glauben.«
    »Ich sage ja immer, du bist einer der besten Diagnostiker der Welt«, sagte Jenny.
    »Das ist eine Art sechster Sinn. So etwas kann man nicht im Medizinstudium lernen.«
    »Ja. Du bist im Großen Strom.«
    »Im Großen Strom?«, fragte Harry.
    »Das ist ein unterschwelliges Kommunikationssystem, das Lucy nutzt. Alle Tiere nutzen es.«
    »Ja, davon habe ich schon gelesen«, erwiderte Harry. »Nonverbale Kommunikation. Paul Ekman. Elaine Hatfield. Kommunikation auf Gefühlsebene und über kaum wahrnehmbares Mienenspiel. Und wie heißt gleich wieder die Frau mit dem ausgeprägten Geruchssinn an deiner Uni?«
    »Meinst du Martha McClintock?«
    »Ja, genau. Es betrifft alle Sinne. Die meisten Menschen ignorieren es nur.«
    »Lucy hat mir eine Menge beigebracht. Und Amanda auch.« Einen Augenblick lang schwiegen sie, den Blick auf ihre Drinks gerichtet. »Nun, es tut mir jedenfalls leid, dass ich es dir nicht schon früher erzählt habe.«
    »Nein, das muss dir nicht leidtun. Ich hätte genau dasselbe getan. Um Lucys willen.« Er rieb sich das Kinn, an dem sich schon wieder die ersten Bartstoppeln zeigten, und schüttelte den Kopf. »Was um Himmels willen hat sich dieser Mann bloß gedacht?«
    |207| »Genau das habe ich mich auch gefragt, nachdem ich es herausgefunden hatte«, sagte Jenny.
    »Ob er einfach nur völlig verrückt war, was meinst du?«, fragte Harry.
    »Nein, das glaube ich nicht. Er war jung, ehrgeizig und äußerst unkonventionell. Zu Anfang ist Lucy wohl nur eine Art wissenschaftliches Projekt gewesen, doch als sie zu laufen und zu sprechen begann, hat er erkannt, was er getan hatte. Er hat alles in seinen Notizen festgehalten. Seine Schuldgefühle, seine Reue. Seine Sorge darum, was aus ihr werden soll, wenn er nicht mehr da sein wird, um sie zu beschützen. Oder auch dann, wenn er es noch kann. Er hat sie geliebt. Wirklich. Und er sah ein, was für einen schwerwiegenden Fehler er gemacht hatte.«
    »Das arme Mädchen. Sie werden ihr bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.«
    »Nicht, solange ich es verhindern kann. Wir hoffen, dass das grelle Licht der Öffentlichkeit uns dabei hilft, sie zu beschützen. Jetzt gibt es ohnehin keinen Weg mehr zurück.«
    »Hast du daran gedacht, in ein anderes Land zu gehen? In eines, das nicht ein solcher Polizeistaat ist wie die USA mittlerweile?«
    »Sie will nicht weglaufen.«
    »Sie ist erst sechzehn. Du bist ihre Mutter. Stiefmutter. Wie auch immer. Herrgott, Jenny, wenn du in Schwierigkeiten gerätst, dann aber richtig, was?« Harry hielt kurz inne. »Wie kann ich dir also helfen?«, fragte er dann. »Ihr könnt in meinem Haus wohnen, jederzeit. Du weißt, wo der Schlüssel versteckt ist. Und ich habe auch noch die Farm oben in Wisconsin. Dort könnt ihr natürlich auch hin.«
    »Danke. Könnte gut sein, dass wir darauf zurückkommen müssen.«
    |208| »Ich stehe auf Abruf bereit. Mein Pager ist immer an. Sag mir einfach Bescheid.«
    »Danke.«
    Harry

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