Lucy
Tränen in den Augen sah Amanda Lucy an. »Wusstest du denn nicht, dass du mir vertrauen kannst?«
Jetzt weinte auch Lucy. »Doch, natürlich. Ich vertraue dir doch. Ich wollte es dir schon so oft erzählen, und in Boundary Waters habe ich es ja auch versucht.«
»Ich weiß. Das hast du wirklich getan.«
»Du hasst mich also nicht?«
»Quatsch. Ich
liebe
dich. Und ich hab total Angst um dich. Was werden sie jetzt mit dir machen?« Amanda sah Lucy mit einem durchdringenden Blick an, so als könnte sie geradewegs ganz zurück bis zu ihrer Empfängnis sehen. Mittlerweile hatte sie begriffen, was die Sache mit Lucy eigentlich bedeutete. »Warum hat er dir das angetan? Hat er dich nicht geliebt?«
Und zum ersten Mal begann auch Lucy etwas zu erkennen, dem sie bislang immer ausgewichen war. Amanda musste nicht einmal sagen, von wem sie sprach. Lucy sah es deutlich in ihren Augen. Über diese Dinge wusste Amanda Bescheid. Die meisten Eltern bekamen Kinder, weil sie Kinder liebten. Oder sie liebten Kinder, weil sie welche hatten. Aber warum, fragte Lucy sich jetzt, warum hat Papa mich gewollt? Er sah seine grandiose wissenschaftliche Idee, aber hat er wirklich auch den Menschen gesehen, den er erschuf? Amanda wusste, wie es war, einen Elternteil zu haben, der einen gar nicht sah. Und dann empfand Lucy nur noch Traurigkeit. Wegen sich selbst und wegen Amanda. Die beiden umarmten einander noch fester im Regen.
»Kommt«, sagte Jenny. »Es ist viel zu gefährlich, hier herumzustehen. Und ihr seid schon ganz nass. Fahren wir weiter, wir müssen nach Hause.«
Amanda holte einmal bebend ganz tief Luft. Dann löste sie |201| sich aus Lucys Umarmung, und sie gingen zum Auto zurück. Jenny ließ den Motor an und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Die Scheinwerfer tauchten den nassen Asphalt unter dem aufgewühlten Himmel in gelbes Licht. Schweigend fuhren sie weiter, nur der Verkehr auf dem Highway und das Geräusch der Scheibenwischer waren zu hören.
»Ich liebe dich auch, Amanda«, sagte Lucy plötzlich. »Ich würde nie etwas tun, was dich verletzt.«
»Das weiß ich doch. Das weiß ich.«
Auf dem Weg hinauf nach Boundary Waters hatte Amanda die ganze Zeit Musik laufen lassen. Aber seit ihrer Abfahrt vom Krankenhaus in Duluth war noch keine Musik zu hören gewesen. Lucy wusste: Es war etwas im Großen Strom gewesen, das Amanda wahrnehmen konnte, ein Gefühl, dass irgendetwas auf sie zukam. Und nun war es da.
Lucy betrachtete sie. Amanda war hart im Nehmen, gestählt durch Widrigkeiten aller Art. Lucy konnte geradezu spüren, wie konzentriert sie nachdachte, um eine neue Strategie zu finden in einem Leben, das ihr schon viele plötzliche Strategiewechsel abverlangt hatte. Mit gerunzelter Stirn kaute Amanda an ihren Nägeln. Blitze zuckten durch den wolkenverhangenen Himmel, und einen Augenblick später hörten sie es krachen und donnern. Amanda griff nach ihrer C D-Mappe und blätterte langsam darin herum, als würde sie darauf warten, dass eine der CDs zu ihr sprach. Lucy spürte sie im Großen Strom. Dann zog Amanda eine Tom-Petty-CD heraus und legte sie in den Player. Sie drehte die Lautstärke auf, klimpernd setzten die ersten Gitarren ein, unterlegt von einem treibenden, hämmernden Schlagzeug. Dann sang Tom Petty: »
Well, she was an American girl …
« Diesmal wackelte keine von ihnen ausgelassen in ihrem Sitz herum. Amanda nickte nur im Takt vor sich hin, als wollte sie dem Song irgendwie |202| zustimmen, und hörte zu, bis die Gitarren am Ende langsam verklangen. Dann waren wieder nur das zischende Geräusch von Autoreifen und das Dröhnen der vorbeifahrenden Lastwagen zu hören. Und das Prasseln des Regens.
»Ich weiß, was wir tun müssen«, sagte Amanda auf einmal.
»Was denn?«, fragte Jenny.
»Wir müssen die Informationen kontrollieren. Wir dürfen denen nicht die Deutungshoheit überlassen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Lucy.
»So wie die Politiker es machen, oder große Unternehmen. Erinnerst du dich noch an den Kurs in afro-amerikanischer Geschichte? Nach Jahrhunderten der Unterdrückung nahmen die Schwarzen es selbst in die Hand, wie mit ihnen und ihrem Erbe umgegangen wurde. James Brown, weißt du? ›Ich bin schwarz, und ich bin stolz darauf.‹ Genau so musst du es auch machen. Lass nicht zu, dass die anderen über dich urteilen oder dich definieren. Du musst diejenige sein, die der Welt erzählt, wer du bist.«
»Mein Gott, sie hat recht«, sagte Jenny. »Warum bin ich
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