Lucy
noch während sie darüber nachdachte, was sie sagen sollte. Sie blickte in ihren Schoß, dann sah sie Diane an. »Ich glaube, ich bin genauso wie viele andere Teenager auch und habe genau die gleichen Gefühle wie die meisten. Vor langer Zeit ist etwas passiert, das ich nicht beeinflussen konnte. Niemand hat mich gefragt, ob ich auf diese Welt kommen wollte. Und bevor ich wusste, was passiert war oder warum, lebte ich einfach, lernte laufen, sprechen, malte mit Buntstiften und machte all die Erfahrungen, die ein Leben eben ausmachen. Als ich schließlich alt genug war, um Fragen zu stellen, tja, da war es schon zu spät. Aber ich bin froh, dass ich auf der Welt bin. Und ich bin froh, dass ich bin, wie ich bin. Aber ich habe mich nicht selbst |226| erschaffen. Das hat jemand anders getan. Und ich fühle mich irgendwie wie eine Fremde in einem fremden Land. Glauben Sie nicht, dass alle Teenager sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben so fühlen, Diane?«
Die Frau faltete die Hände und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. »Das ist so berührend, Lucy. Und ich glaube, du hast absolut recht.«
Die Sendung dauerte nur wenige Minuten. Die Frau schien ständig weiterzuhasten in dem kleinen Biotop ihres Wohnzimmers und doch nie irgendwo anzukommen. Schließlich verabschiedete Lucy sich und wurde zurück in die Garderobe geführt, wo Amanda und Jenny auf sie warteten. Amanda schloss sie ungestüm in die Arme. »Du bist der Wahnsinn, Luce. Du warst einfach fantastisch.«
Dann brachte man die drei wieder zum Haupteingang des Gebäudes und hinaus auf die Straße, wo eine Limousine auf sie wartete. Bevor sie einsteigen konnten, drängte sich schon eine Menschenmenge um sie, hielt Lucy Zettel hin, und alle versuchten Fragen zu stellen. Sie blieb stehen und schrieb Autogramme, doch der Fahrer der Limousine drängte sie, in den Wagen zu steigen, und dann waren sie auch schon auf dem Weg zur nächsten Sendung.
»Es fällt mir echt schwer, das alles zu begreifen«, sagte Lucy, als sie endlich auf der Rückbank neben Amanda und Jenny saß.
»Du bist ein Star. Nimm’s einfach hin.«
Jenny wirkte nicht ganz so begeistert. »Ich hoffe, all das trägt zu deinem Schutz bei.«
Sie mussten jedoch sehr schnell lernen, dass Berühmtsein wie eine chronische Krankheit war, gegen die noch kein Heilmittel gefunden war. Im einen Augenblick war Lucy noch ein ganz normaler Teenager gewesen, gefangen in den Alltagssorgen |227| des Schullebens. Und im nächsten wurde sie hinweggefegt von einem Wirbelsturm von Publicity, Fernsehsendungen und Interviews im ganzen Land.
Lucy verlor alles Zeitgefühl, doch eins blieb ihr gegenwärtig: das Meer. Sie hatte es vorher noch nie gesehen. Sie wohnten in einem Hotel namens Shutters, das direkt am Strand von Santa Monica lag. Das Zimmer, das Amanda und Lucy sich teilten, hatte gläserne Schiebetüren, die auf eine Terrasse hinausführten, von der aus man aufs Wasser blicken konnte. Gleich am ersten Tag zogen sich Lucy und Amanda rasch ihre Bikinis an, Lucy den gelben, Amanda den blauen, und rannten kreischend in die Brandung, wo sie wie zwei Delfine fast den ganzen Nachmittag herumtollten. Später lagen sie erschöpft im schrägen Licht des Abendrots im Bett. Lucy las Amanda etwas vor – »und das Meer das Meer glühend rot manchmal wie Feuer und die herrlichen Sonnenuntergänge und die Feigenbäume in den Alamedagärten ja« –, als Jenny mit dem ersten Angebot für einen Buchvertrag in der Hand hereinkam.
Amanda machte natürlich Witze darüber. »Ist schon eine coole Idee, das muss ich zugeben«, sagte sie. »Wie wär’s denn mit einem Selbsthilfebuch? Titel:
Auf der Suche nach deinem inneren Menschenaffen.
Und dann kannst du gleich noch ein Video hinterherschieben, vielleicht
Workout mit dem Dschungelmädchen
.«
Lucy dachte daran, dass sie Bücher schon immer geliebt hatte, noch bevor sie lesen konnte. Überall hatte sie sie mit sich herumgeschleppt und wie einen Schatz gehütet. Sie dachte daran, wie ihr Vater ihr das Schreiben beibrachte, wie sie den Stift gehalten, die Seite angesehen und gedacht hatte, was für eine großartige Sache es doch war, schreiben zu lernen. Ein Buch zu schreiben erschien ihr so durch und durch menschlich. Zeichen auf eine Seite setzen, die andere dann zum |228| Lachen brachten oder zu Tränen rührten. Das konnten nur die Menschen. Wenn sie ein Buch schreiben würde, ein richtiges Buch, dann könnte nie mehr jemand sagen, dass sie nicht
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