Lucy
werden, und die Gaslampen funktionierten immer noch. Doch so jung er damals auch gewesen war, |220| Harry plante langfristig. Im Laufe der Jahre ersetzte er nach und nach die Vorhänge, um mehr Licht hereinzulassen, und schliff selbst die Holzfußböden ab und versiegelte sie neu. Als er dann richtig gut zu verdienen begann, ließ er Schritt für Schritt weitere Renovierungsarbeiten vornehmen, bis das Haus schließlich wieder in seiner alten viktorianischen Pracht erstrahlte und die gereinigten belgischen Kristalllüster wieder so glitzerten wie einst. Diesen großartigen Besitz hätte er mit Jenny teilen wollen, wenn sie denn bereit gewesen wäre, den Dschungel aufzugeben. Als Jenny sich jetzt darin umsah, sehnte sie sich ein wenig nach jenen simpleren Tagen, in denen sie genau zu wissen meinte, was sie wollte, und ohne Bedauern einfach nein sagen konnte.
Zum ersten Mal würdigte sie die bemerkenswerte Leistung, die Harry mit diesem Haus gelungen war, wirklich. Er hatte einen Ort von ungewöhnlicher Ruhe erschaffen. Die Balken aus Weymouth-Kiefer, die unter dem Putz lagen, hart wie Eisen vor Alter, die riesigen Firstbalken irgendwo darüber, die alten Steingiebel, Dachziegel, Stuckverzierungen und Gesimse an der Fassade umschlossen sie und dämpften den Lärm der Welt dort draußen. Sie stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu einer schönen Zimmerflucht, die üppig und nostalgisch möbliert war mit antiken Möbeln und ein wenig nach Staub und Holzöl roch. Schwaches Sonnenlicht fiel durch die Unregelmäßigkeiten in den alten Fensterscheiben herein.
Glastüren führten auf einen großzügigen Balkon hinaus, von dem aus man in einen englischen Garten sah. Er wirkte wie der Hof eines Museums mit der hohen Steinmauer, an der die Äste eines Spalierbirnbaums rankten wie die Arme eines Kandelabers. An schmalen, mit Kopfstein gepflasterten Wegen waren Herbstzeitlose, Amaryllis und Stechender Mäusedorn |221| angepflanzt. In gepflegten Beeten wuchsen Wiesenknöterich, Fingerhut, Rasen-Glockenblumen, Orientalischer Nieswurz und, in einer entfernten Ecke, die Große Fetthenne. Das entsprach ganz Harrys schwarzem Humor. All diese Pflanzen waren giftig.
Die Mädchen sonnten sich auf Liegen auf der Veranda im zweiten Stock. Jenny blieb einen Augenblick lang vor der Fliegengittertür stehen und betrachtete die beiden. Sie trugen Bikinis, Lucy einen gelben, Amanda einen blauen, und sahen einfach wunderschön aus. Jenny wünschte, sie könnte die beiden allein durch die Kraft ihrer Gefühle irgendwie beschützen. Lucy tat etwas Seltsames mit der Hand. Jenny trat einen Schritt näher an die Tür. Amanda kicherte und sagte: »Quatsch, das gibt’s nicht.«
»Gibt’s wohl«, erwiderte Lucy. »Guck hin.«
Dann konnte Jenny es erkennen. Ein Kohlweißling flatterte zwischen den beiden Liegen umher. Lucy streckte eine Hand aus und lockte immer wieder: »Na komm. Na komm«, bis sich der Schmetterling tatsächlich auf ihrer Hand niederließ. »Okay. Guck hin«, sagte sie noch mal zu Amanda und dann »Jetzt flieg« zu dem Schmetterling, der daraufhin erneut zwischen den Liegen herumzuflattern begann. »Jetzt komm«, sagte Lucy, und Jenny sah, wie der Schmetterling sich wieder auf ihre Hand setzte.
»Krass! Das glaube ich nicht. Mach’s noch mal.«
Noch einmal ließ Lucy den Schmetterling auffliegen und landen. »Ist ja irre«, sagte Amanda begeistert. »Zeig mir, wie man das macht, Lucy.«
»Das kann ich dir nicht zeigen.«
»Warum nicht?«
»Weil du zu menschlich bist.«
Ein unheilvolles Schweigen senkte sich über sie. Über |222| Amandas Gesicht huschte ein verletzter Ausdruck, und Lucy wirkte auf einmal ganz traurig.
»Entschuldige«, sagte Lucy. »Das war gemein.«
Die Mädchen sahen einander einen Augenblick lang an. Jenny hatte die beiden zuvor noch nie uneins gesehen und fragte sich, wie sie es lösen würden. Amanda sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Doch plötzlich dämmerte Erkenntnis in ihren Augen, ihre Miene heiterte sich auf, und sie brach in Gelächter aus. Dann begriff auch Lucy, was gerade geschehen war, und begann ebenfalls zu lachen. »Ich glaub’s nicht!«, rief Amanda. »Ich war eben echt beleidigt, weil du mich menschlich genannt hast!« Und dann konnten die Mädchen sich nicht mehr halten. Vor Lachen purzelten sie von ihren Liegen herunter auf den Boden, wo sie kichernd liegen blieben, während der Schmetterling in den Garten davonflatterte. Schließlich lagen sie
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