Lucy
ihr Herzschlag beschleunigte. Die Luft war elektrisch aufgeladen. Vor ihrer Haustür warteten ein paar Journalisten, doch Jenny funkelte sie wie die alte Lucretia mit gebleckten Zähnen an und brüllte: »Nein!« Einen Moment lang sahen sie bloß verwirrt drein. Dann rief Jenny: »Böser Hund!« Da endlich zogen sie ab, mit einem Blick in den Augen, der besagte: Die Frau ist ja komplett verrückt.
»Vor zähen Typen hat heutzutage keiner mehr Angst«, sagte Jenny zu Lucy. »Aber jeder fürchtet sich vor Verrückten.«
Der Fahrer stellte ihre Koffer auf den Gehsteig. Amanda kam aus dem Haus geeilt und umarmte Lucy.
»Tut mir leid, ich hab’s vermasselt«, murmelte Lucy.
»Nein, hast du nicht. Der Mistkerl hat dich reingelegt, Luce. Egal, du hattest das letzte Wort, und du hast es ihm gegeben. Der Kerl ist ein Blödmann. Harry hat angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass er dich im Fernsehen gesehen hat und dich – seine Worte – ›absurd großartig‹ fand. Und das Zitat aus dem
Kaufmann von Venedig
fand er ›irrwitzig gut‹.«
»Ist mir einfach so eingefallen.«
Jenny legte den Arm um die Mädchen und drängte sie ins Haus.
Die Fenster waren offen und die elektrisch aufgeladene Luft |276| blähte die Vorhänge. Lucy blickte hinaus und sah, wie sich die Kronen der Bäume im Wind neigten und Blätter in kleinen Wirbeln und Strudeln herumflogen. Große Tropfen schlugen wie Kiesel gegen die Fensterscheiben. Der Himmel im Nordwesten flackerte plötzlich grell auf, und tiefes Donnergrollen fuhr in dicht aufeinanderfolgenden Wellen über die Umgebung hinweg.
Amanda hatte einen Nudelsalat zum Lunch gemacht, doch Lucy konnte nichts essen. Ihr Herz hämmerte, sie konnte kaum still sitzen.
»Was ist los, Luce?«, fragte Amanda. »Du wirst doch nicht wieder krank, oder? Werd bitte nicht krank.«
»Ich fühl mich nur irgendwie seltsam. Vermutlich ist es bloß der Stress. Ständig die vielen Autos, Flugzeuge, Hotels und Leute, weißt du.« Aber Lucy fühlte sich, als würde sie sich auflösen. Sie ahnte, was mit ihr los war, doch sie wollte nicht darüber sprechen.
Als es dämmerte, hatten sich die Gewitterstürme im ganzen Landstrich ausgebreitet, und Lucy war zu aufgewühlt, um sich noch auf irgendetwas konzentrieren zu können. Sie wusste, dass sie diese innere Unruhe bezwingen musste, vor allem jetzt, da so viel Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war. Sie versuchte zu lesen, las jedoch nur wieder und wieder dieselbe Seite. Als von Osten her der Abend immer schwärzer wurde, beschlich sie ein Gefühl der Furcht vor dem, was da kommen würde. Furcht und Aufregung, denn sie spürte, wie ein Teil ihrer Persönlichkeit ihr entglitt und etwas anderes an seine Stelle trat. Dann fand sie sich plötzlich in der Garage wieder, deren Tor offen stand. Sie wiegte sich nervös hin und her, den Blick in den herabströmenden Regen gerichtet. Es blitzte und donnerte direkt über ihr, und sie schmeckte die Kupferteilchen in der Luft und roch das Ozon. Sie hörte Jenny und Amanda |277| von oben rufen, konnte aber nicht antworten. Schließlich hörte sie Schritte die Treppe herabeilen und dachte: Oh, wenn ich ihnen nur erklären könnte, wie mir geschieht. Vielleicht könnten sie mich retten. Vielleicht könnten sie das hier aufhalten. Vielleicht könnten sie mir sagen, was ich tun soll.
Lucy drehte sich um und sah die beiden mit besorgter Miene die Garage betreten. Sie versuchte zu sprechen. Doch in diesem Augenblick blitzte und donnerte es noch einmal mit aller Wucht direkt über ihr, und als Lucy den Mund öffnete, drang nur ein wildes Keuchen und Johlen aus den Tiefen ihrer Brust.
Amanda schrie auf, dann schlug sie sich mit aufgerissenen Augen die Hand vor den Mund.
»Lucy, was ist los?«, rief Jenny. »Was fehlt dir?«
Wieder öffnete Lucy den Mund, doch ihr entfuhr nur ein Kreischen.
Noch einmal schrie Amanda auf. »Was ist denn? Was ist nur los? Lucy, du machst mir Angst!«
»Mein Gott, es ist das Gewitter.« Behutsam näherte Jenny sich Lucy. »Es ist nur Regen und Donner, Schatz. Dir wird nichts passieren.« Sie legte Lucy eine Hand auf die Schulter.
»Was?«, fragte Amanda. »Was ist mit dem Gewitter? Was ist los? Warum tut sie das? Lucy, hör auf damit!«
Lucy spürte jeden einzelnen Muskel ihres Körpers beben, als Jenny sie zu beruhigen versuchte. Sie wollte etwas sagen, hatte aber inzwischen Angst vor dem, was aus ihrem Mund kommen würde. Sie konnte nur keuchend dastehen und leise kehlige Laute
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