Luderplatz: Roman (German Edition)
versteckt war, wusste sie, wie sie Viktoria Latell anonym einen Hinweis zukommen lassen konnte. Der Sohn ihrer Zimmernachbarin, ein freundlicher Portugiese, half ihr.
Mit zitternden Händen gab sie ihm die Sammelkarte. Es war das erste Mal – seit Florians Verschwinden –, dass sie sie aus ihrem Portemonnaie nahm. Sie hatte sie bei eBay ersteigert und ihm geben wollen – als Dankeschön dafür, dass er später nach Hause gekommen war. Doch er kam nicht später.
Ein Ticket der Verkehrsbetriebe hatte sie auch noch im Geldscheinfach, weil sie es bei ihrem letzten Besuch in Berlin nicht benutzt hatte. Doch es reichte nicht als Hinweis – fand sie. Sie notierte noch die Abfahrtzeit des Busses auf einem Zettel. Des Busses, der ihren kleinen Bruder in welche Hölle auch immer gebracht hatte. Des Busses, in den er nur gestiegen war, weil sie es ihm gesagt hatte.
Sie wusste nicht, ob Viktoria Latell die Hinweise richtig deuten würde. Sie wusste nicht, ob sie sie überhaupt finden würde, ob sie die Fährte aufnahm, ob sie überhaupt suchen würde. Doch als Pablo ihr lächelnd zunickte und ihr versprach, auf Schatzsuche zu gehen, hatte sie das Gefühl, es richtig gemacht zu haben. Sie legte das Schicksal in die Hand des Zufalls, eines Gottes oder einer Reporterin – doch sie hatte etwas getan. Endlich.
Viktoria schaute Florians Eltern, die nebeneinander am Küchentisch saßen, lange an. »Dann stimmt es also, dass er zur Autogrammstunde wollte?«
»Wir denken schon. Das würde ja auch erklären, warum er dort in der Nähe gefunden wurde.« Jetzt zitterte die Stimme seiner Mutter doch. »Die Spree fließt ja Richtung Spandau, er muss ein bisschen abgetrieben sein.«
Viktoria rührte wieder in ihrem Kaffee, der inzwischen lauwarm war. Sie wusste nicht, was sie fragen, was sie sagen sollte.
Florians Vater räusperte sich. »Wir denken, er wollte Enten füttern. Das tat er immer sehr gerne, besonders wenn er Dinkelbrot in seiner Brotdose hatte.«
Florians Mutter lachte und weinte gleichzeitig. »Er mochte es nicht besonders.«
Viktoria atmete tief durch. Die Butterbrotdose war leer gewesen. Es konnte also wirklich sein. Er war nach der Autogrammstunde spazieren gegangen, um die Zeit bis 21 Uhr totzuschlagen, und war vielleicht über die Spreebrücke am Bahnhof Friedrichstraße geschlendert. Dort hat er Enten gesehen und ist ans Ufer geklettert. Vielleicht, wahrscheinlich, ziemlich sicher.
»Er war Enten füttern …« Sie sprach mehr zu sich selbst.
»Wissen Sie, Frau Latell«, sagte Florians Vater, »wir sind einfach nur froh, dass er nicht … dass ihm niemand etwas Schlimmes angetan hat. Dass es ein Unfall war. Dass das Letzte, was unser Flori gesehen hat, eine Ente war, die seinen Brotkrumen gefressen hat, tröstet uns – so merkwürdig das auch klingen mag.«
Viktoria nickte. Sie hatte – genauso wie Florians Eltern – an eine Entführung, an Missbrauch gedacht. Sie hatten an die Qualen gedacht, die Florian erleiden musste, bevor irgendein Mistkerl mit ihm fertig war. Bevor er dem Jungen angetan hatte, was niemand niemandem antun durfte. Sie hatte an all die grausamen Geschichten gedacht, über die sie schon schreiben musste. Die Geschichten, die zu schrecklich waren, um sie in Worte zu fassen. Die Geschichten, bei denen sie Details wegließ, weil sie niemand lesen und ertragen konnte. Geschichten aus der Hölle, die nicht erfunden waren – die leider Gottes nicht erfunden waren.
»Ich … Also wir, wir hatten uns Dinge ausgemalt, die man sich nicht ausmalen will.«
Viktoria verstand Florians Vater. Auch sie hatte sie sich ausgemalt.
»Ich habe Leute verdächtigt. Ich hatte einen Kollegen, der auf seinem Computer ein paar Fotos von Teenagern hatte – halb nackt. Ich dachte … er hat ihn … er hat meinen Jungen … Dabei waren das seine eigenen Fotos. Fotos von ihm selbst als Judokämpfer. Er hatte sie von einem Freund gesendet bekommen, der als Junge mit ihm im selben Judoklub trainiert hat, und hat sie digitalisieren lassen. Es war vollkommen harmlos. Vollkommen harmlos.«
Viktoria verstand. Sie verstand.
»Ich habe ihn nie nach den Fotos gefragt. Ich habe der Polizei nicht geglaubt, als sie mir sagten, er habe ein Alibi. Erst als mir ein Beamter erklärt hat, worum es sich bei den Bildern handelte, begriff ich, dass ich mit meinen Verdächtigungen alles kaputtmachte …«
»Haben Sie Ihrem Kollegen je von Ihrem Verdacht erzählt?«
»Ja«, sagte Florians Vater und schaute ihr direkt in die
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