Luderplatz: Roman (German Edition)
Augen. »Sonst hätte ich mich ja auch nicht bei ihm entschuldigen können.«
Viktoria senkte den Blick. Sie wusste, dass sie es auch tun musste. Sich entschuldigen.
16. Kapitel
Dass sie keinen Platz bekam, war ihr fast recht. So konnte sie im Zwischengang des klapperigen, zugigen und völlig überfüllten IC nach Osnabrück schon einmal ein bisschen Buße tun. Ich habe es verdient, dachte Viktoria, ich habe es verdient. Der Takt des Zuges gab den Takt ihrer Gedanken vor.
Sie war nicht gut vorbereitet und hatte keine Ahnung, was sie Kai sagen würde. Wie sie es ihm sagen würde oder wann oder wo. Sie war einfach eingestiegen in diesen Zug und hatte nichts mitgenommen. Keine Zahnbürste, keine Pyjamahose, keinen Plan B. Sie würde zu ihm fahren, sie würde sich entschuldigen. Die Verräterin will ihr Gewissen befreien, dachte sie. Sie hielt im Moment nicht viel von sich selbst.
»Autsch.« Ein Teenager hatte ihr seine neongrüne Reisetasche in die Hüfte geknallt und sich nicht einmal bei ihr entschuldigt. Wieso sollte er auch, dachte sie. Ausgerechnet bei mir. Ihr Vergehen war weitaus größer gewesen, und sie hatte es auch noch nicht geschafft, um Verzeihung zu bitten.
Und – auch das war ihr sonnenklar – ihr war es auch noch nicht gelungen, das ganze Puzzle zusammenzusetzen. Fuhr sie also wirklich nur zu Kai, um sich die Absolution erteilen zu lassen, um wirklich Reue zu bekennen? Oder war sie einfach auf der Suche nach der Wahrheit, nach der Erkenntnis, nach den fehlenden Details? War sie getrieben von dem Jagdinstinkt einer ehrgeizigen Reporterin, die es nicht ertrug, nicht alles zu wissen, zu verstehen? Oder ging es ihr wirklich darum, sich ihm zu erklären? Die Frage, auf die alles hinauslief, war eigentlich: Bin ich gut oder bin ich schlecht?
»Das mit Osterbuschs Willhelm ist ja schrecklich.« Rosa König war offensichtlich nicht in der Lage, einfach nur ein-und auszuatmen, sie musste noch während des Luftholens unentwegt Wörter produzieren.
Kai Westmark tat ihr den Gefallen und murmelte: »Mmh«, während er versuchte, dem Herzschlag der Wirtin vom Gasthaus König zu lauschen. Sie befürchtete wie so oft, Herzrhythmusstörungen zu haben, aber das war mal wieder falscher Alarm. Kai musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzufahren, dass sie, wenn sie einfach nur ihren Dorftratsch loswerden wollte, doch hinterm Tresen genug Gelegenheit hätte, dies zu tun. Warum musste sie ihn nerven? Er war müde. Er wollte Feierabend machen. Er wollte nicht mehr.
Nicht mehr über Osterbuschs Willhelm reden, der bei der Suche nach seiner Lesebrille ertrunken war, weil er sie in einem Gully vermutet hatte. Der arme Mann hatte den Deckel mit einer Eisenstange angehoben, in das dunkle Loch geschaut und war kopfüber hineinge rutscht.
Er wollte auch nicht mehr mit Rosa über deren Herzprobleme sprechen, die keine waren. Er wollte keine gelben Scheine für faule Azubis ausstellen, er wollte sich mit niemandem über die Praxisgebühren streiten. Er wollte die strengen Blicke der Arzthelferinnen nicht mehr ignorieren, wenn sie ihn dabei ertappt hatten, dass er ein Medikament notiert hatte, das nur für Privatpatienten abrechenbar war. Er wollte nicht mehr die misstrauischen Blicke der Patientinnen ignorieren, die davon gehört hatten – von dieser Vergewaltigungs-und dieser Mordgeschichte. Er wollte sich nicht mehr verkleidet vorkommen in seinem weißen Kittel. Seine Praxis war wie eine Karnevalsfeier, bei der er als Doktor Westmark ging. Und alle lachten. Nur er nicht.
»Frau König …« In der Kneipe hätte er sie geduzt.
Rosa zog sich ihre Bluse wieder an und schaute ihn erwartungsfroh an.
»Hört sich alles gut an«, sagte er, und sie schien enttäuscht.
»Sie sollten aber schön auf sich achtgeben und sich nicht zu viel zumuten. Treten Sie ein bisschen kürzer, überanstrengen Sie sich nicht.«
Sie lächelte wieder. Ja, damit hatte er ihr einen Gefallen getan. Sie würde ihrem Mann am Abend gleich sagen, dass sie nicht mehr so lange am Tresen stehen dürfte. Und dann würde sie doch da stehen. Gesundheitlich überhaupt kein Problem für sie, das wusste auch Kai. Doch jetzt fühlte sie sich dabei besser, wie eine kleine Märtyrerin.
Als sie ging, öffnete er das Fenster und rauchte. Bis morgen früh würde der Geruch verschwunden sein. Aber das war beinahe auch schon egal. Sein Ruf war längst ruiniert. Es war halb neun, er war allein in der Praxis, der Parkplatz war leer, die Abendsonne spiegelte
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