Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
983/17
Schutzhaftbefehl
Der – Die – Professor
Rohrschmidt, Richard
geb. am 5. 4. 1893 in Mettmann
wohnh. in Köln, Sachsenring 76a
z. Zt. in Polizeihaft
ist aufgrund von § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28.2.1933 in Schutzhaft zu nehmen.
Begründung: Dringender Verdacht staatsfeindlicher Betätigung.
Er ist dem Schutzhaftlager Buchenwald zuzuführen.
Eine Beschwerde gegen diesen Schutzhaftbefehl ist nicht zulässig.
»Staatsfeindliche Betätigung«, das konnte alles Mögliche heißen in einem Dokument, das sich auf die Reichstagsbrandverordnung des längst verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg bezog. Es gab inzwischen nicht einmal mehr einen Reichspräsidenten, sondern nur noch einen »Führer und Reichskanzler«. Und vom Reichstagsbrand war ohnehin schon lange keine Rede mehr. Es genügte der Verdacht, um einen Menschen ohne Urteil ins KZ zu schicken. Oft verhaftete die Gestapo auch Leute, die im Gericht einen Freispruch erreicht hatten, gleich draußen auf der Straße. Oder Menschen, die ihre Haftstrafe abgesessen hatten.
Stachelmann blätterte weiter. Es folgten Formulare und Vermerke, die ihn nicht interessierten. Dann aber ein Vernehmungsprotokoll, datiert auf den 16. Oktober 1937:
Frage: Sie haben am 23. Sept. d. J. in einem Kreis mit so genannten Gleichgesinnten behauptet, die Politik des Führers ende in einer Katastrophe.
Antwort: Ich habe mir Sorgen gemacht, dass die Aufrüstung auf einer finanziell und wirtschaftlich ungesicherten Grundlage die Volkswirtschaft in eine Krise reißen könnte.
Frage: Sie lügen. Sie haben erklärt, die Politik unseres Führers ende im Krieg, der nur eine Niederlage Deutschlands bedeuten könne.
Antwort: Das ist nicht wahr. Das ist eine Unterstellung. Wer hat das behauptet?
Dem Beschuldigten wird das Vernehmungsprotokoll eines Beteiligten dieser Runde gezeigt, in dem dieser Zeuge bestätigt, dass der Beschuldigte dem Führer »Kriegstreiberei« unterstellt hat.
Antwort: Das ist eine Verleumdung. Nichts davon ist wahr.
Dem Beschuldigten wird ein weiteres Vernehmungsprotokoll gezeigt. Der Zeuge bestätigt ebenfalls, dass der Beschuldigte erklärt habe, der politische Kurs unseres Führers werde einen Weltkrieg auslösen, der mit dem Untergang Deutschlands enden werde.
Stachelmann überlegte, ob die Gestapo-Leute Rohrschmidt in dieser Phase des Verhörs schon geschlagen hatten.
Antwort: In der Tat halte ich die Politik des Führers für nicht ungefährlich. Er hatte das Glück, dass die Siegermächte auf den Einmarsch ins Rheinland nicht reagiert haben. Aber ich habe mich in dem besagten Kreis nicht dazu geäußert.
Frage: Haben Sie sich gegenüber anderen Personen so geäußert?
Antwort: Nein.
Frage: Wie erklären Sie sich, dass zwei Beteiligte der Gesprächsrunde bestätigen, dass Sie gegen den Führer und seine Politik gehetzt haben? Dass Sie sogar vorgeschlagen haben, eine staatsfeindliche Gruppe zu gründen, um die Politik des Führers zu bekämpfen?
Antwort: Dafür habe ich keine Erklärung.
Frage: Sie waren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei?
Antwort: Ja, bis zu ihrem Verbot.
Frage: In Wahrheit hängen Sie den staatsfeindlichen Ideen dieser Partei immer noch an. Haben Sie Kontakte zum Auslandsvorstand der SPD oder zu illegalen Gruppen im Reich?
Antwort: Ich habe keinen Kontakt. Ich hänge dem Programm dieser Partei nicht mehr an. Sie hat bis zu ihrem Ende eine falsche Politik betrieben. Leider habe ich das zu spät erkannt.
Das war eine bewundernswerte Argumentation. Aus dieser Erklärung mochten die Nazis herauslesen, was sie wollten, ohne dass Rohrschmidt seine Haltung aufgegeben hatte.
Stachelmann bildete sich mittlerweile fast ein, die Gedanken dieses Mannes nachträglich lesen zu können. Natürlich kritisierte er die Politik der SPD vor der Machtübertragung an Hitler. Die Sozialdemokraten hatten kein Konzept gegen den Nazismus. Schlimmer, noch in der Reichstagsdebatte um das Ermächtigungsgesetz erklärte die SPD, von Anfang an gegen die Lüge gekämpft zu haben, Deutschland habe den Weltkrieg begonnen, wie es der Versailler Vertrag historisch korrekt, wenn auch verkürzt festhielt. Sie widersprachen den Nazis nicht, sondern gaben ihnen Recht, jedenfalls in dieser Schlüsselfrage. Die Geburtsstunde der »Kriegsschuldlüge« aber war nicht Versailles, sondern die Bewilligung der kaiserlichen Kriegskredite im August 1914 durch die sozialdemokratische
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