Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Reichstagsfraktion. Stachelmann stellte sich vor, Rohrschmidt habe diese Auffassung vertreten, sogar im Gestapo-Verhör. Aber warum wurde er vernommen? Was hatte ihn in diese Lage gebracht?
Er blätterte weiter. Auf den folgenden Seiten hatte die Gestapo Rohrschmidts Werdegang zusammengefasst. Volksschule in Mettmann, dann Besuch eines Gymnasiums in Düsseldorf. Wehrdienst. Studium in Düsseldorf und Köln, unterbrochen durch den Krieg. Promotion und gleich darauf Habilitation, jeweils mit besten Noten. R. galt an der Kölner Universität als führender Kopf der das System stützenden Akademiker. Versuche des NS-Studentenbundes, ihn zu entlarven, scheiterten an seiner Sturheit und Unbelehrbarkeit. Rohrschmidt war ein Mann, an dem sich die Mitläufer und Jasager ein Beispiel hätten nehmen sollen. Selbst wenn diese Recherche nichts ergab, Stachelmann hatte immerhin einen mutigen Menschen kennen gelernt. Das begriff er erst jetzt, nachdem er die Akte gelesen hatte. Das hätte ich schon tun sollen, als ich noch an der Habilschrift saß. Es genügt eben nicht, einfach etwas aus der Fachliteratur zu entnehmen. Ich mag diesen Kollegen. Im Gegensatz zu mir hat der gewusst, was er tun musste. Und er hat gewiss Angst gehabt vor der Gestapo, aber er hat der Angst nicht nachgegeben. Bohming fiel ihm ein. Wie hätte der sich verhalten in einem solchen Verhör? Falsche Frage, der wäre nie in die Not geraten, weil er sein Fähnchen in den Wind gehalten hätte. Der hätte den Führer schon großartig gefunden, als den sonst noch keiner kannte. Das ist ungerecht, dachte Stachelmann. Man kann nicht wissen, wie sich einer verhalten hätte. Außer bei Bohming, widersprach er sich.
Er lehnte sich zurück und legte die Hände an den Nacken. Die Sitzerei schmerzte im Rücken, aber die Anspannung hielt ihn auf seinem Stuhl. Wie geriet Bohming in diese Geschichte? Natürlich lange nach dem Krieg. Sei geduldig, lies weiter. Er blätterte und stieß auf einen handgeschriebenen Brief an die Stapoleitstelle Köln. Das Blatt war beidseitig beschrieben in Sütterlin. Stachelmann hatte diese Schrift vor vielen Jahren gelernt. In manchen Veröffentlichungen, vor allem in Romanen und Filmen, wird Sütterlin als Nazischrift dargestellt. Es genügt, in einem Film ein paar Sütterlinbuchstaben auf einem Plakat zu zeigen, schon ist die Assoziation Nationalsozialismus geweckt. Dabei waren die Nazis Modernisierer, sie verboten diese Schrift 1941 zusammen mit der Fraktur und machten die lateinische Schrift verbindlich. Einige Jahre zuvor war der Brief geschrieben worden, der nun vor Stachelmanns Augen lag, am 5. Oktober 1937.
Werte Parteigenossen!
Ich sehe mich als getreuer Anhänger unseres Führers und auch gesetzlich verpflichtet, ein Vorkommnis zur Anzeige zu bringen, das geeignet ist, Zweifel an der Staatstreue eines führenden Vertreters der hiesigen Universität aufkommen zu lassen. Gestern, am 4. Oktober, gab es am Abend die monatliche Zusammenkunft des Lehrstuhls, wie sie Volksgenosse Prof. Rohrschmidt seit Jahren abzuhalten pflegt. Nach Abschluss der offiziellen Sitzung bat der Volksgenosse Prof. Rohrschmidt Interessierte, dazubleiben, da er noch einige Fragen anzusprechen wünsche, die nicht im offiziellen Teil der Sitzung erörtert werden könnten.
Zum Zeichen, dass die Zusammenkunft nun eher privaten Charakter annehme, stellte er zwei Flaschen Rheingau-Wein und Gläser auf den Tisch.
Anwesend waren neben dem Volksgenossen Prof. Rohrschmidt und mir die Dozenten Dr. Klüger, Dr. Matthies sowie der Doktorand S. Pfleger, der mit Rohrschmidt in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu stehen scheint.
Als Erstes wies Prof. Rohrschmidt auf den privaten Charakter der Zusammenkunft hin. Er habe einige Fragen, aber keine Antworten. In manchen Situationen sei es aber schon ein großer Schritt, die richtigen Fragen zu stellen, die oftmals eine Antwort erübrigten. Zuerst fragte er nach der Behandlung der Juden in Deutschland, die nach seiner Auffassung seit dem Abschluss der Olympischen Spiele sich verschärft habe. Prof. Rohrschmidt vermied es, Stellung zu beziehen, er fragte nur, aber alle Anwesenden dürften es als Kritik an den Nürnberger Gesetzen verstanden haben.
In die gleiche Richtung zielte offenbar die Frage, wie es dem Prof. Rosenthal gehe, er habe lange nichts mehr von ihm gehört. Ob er Not leide und man ihm helfen solle. Rosenthal ist als Volljude in Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Beamtentums entlassen worden. Da er
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