Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
konnte er es nicht.
Er schaute auf die Uhr. Wenn er jetzt zurückfuhr, wäre er zu früh im Archiv. Aber er entschloss sich, diesen Ort zu verlassen. Langsam steuerte er den Wagen nach Weimar, er war bedrückt, obwohl er schon mehrfach hier gewesen war. Aber an die Hölle auf Erden würde er sich nie gewöhnen. Nicht weniger beschwerte ihn das Wissen, dass es immer Menschen geben würde, die abstritten, was geschehen war, obwohl es kaum ein historisches Ereignis gab, das besser belegt war als das System der Lager. Quellen aller Arten in riesiger Zahl, Dokumente der Lagerverwaltung, der Gestapo, aus den Hauptämtern der SS, Bilder und Töne, Berichte der Täter, Erinnerungen der Opfer, Gerichtsakten, wissenschaftliche Abhandlungen. Da muss einer böswillig sein, um nicht zu sehen, was selbst Blinde sahen. Stachelmann überlegte, was in den Köpfen solcher Menschen vorgehen mochte. Aber außer ein paar Schlagworten fiel ihm nichts ein.
Er mühte sich durch den Verkehr und entdeckte den letzten freien Parkplatz hinter dem Hotel. Einen Augenblick überlegte er, ob er durch die Innenstadt bummeln sollte, aber er kannte sie, und es reizte ihn nicht. Ganz getrimmt auf das Staunbedürfnis von Goethe- und Schillertouristen, war die Stadt schon zu DDR-Zeiten herausgeputzt worden. Sie wirkte unecht, wie ein Disneyland der Klassik.
Ihre Bürger hatten sich früh für Hitler begeistert.
Von Anfang an hatte die Stadt ein besonderes Verhältnis zu den Nazis. In Weimar veranstaltete die NSDAP 1926 ihren ersten Reichsparteitag, auf dem sie den »Deutschen Gruß« einführte. In der damaligen Hauptstadt Thüringens zogen die Nazis zuerst in eine Landesregierung ein. Fritz Sauckel war 1932 Ministerpräsident und Innenminister von Thüringen und posaunte, gerade in Weimar habe sich »die deutsche Wiedergeburt markant, rasch und geradlinig« vollzogen. In Weimar wurde das »Weimarer System«, die erste deutsche Demokratie, in den Köpfen und auf den Straßen schon zerstört, bevor Hindenburg Hitler die Macht übergab. 1926 protestierte dort niemand gegen die Nazis, die Bürger fanden offenbar auch nichts dabei, als die braunen Horden Menschen auf der Straße anpöbelten und angriffen, die sie für Juden hielten. Dabei sangen sie: »Wir scheißen auf die Freiheit in der Judenrepublik.« Wo die deutsche Klassik zu Hause war, da waren Hitler, Himmler, Goebbels früh willkommen.
Stachelmann ging zurück in das Hotel, in dem der Führer übernachtet hatte. Er hatte keinen Hunger. Um die Tabletten besser zu vertragen, aß er einen Salat im Hotelrestaurant. Danach einen Kaffee, den er beim Zeitunglesen trank. Die Welt gerät aus den Fugen, dachte er, als er von Krieg, Tod und Terror las. Was sind da meine kleinen Malaisen? Aber dann packte ihn die Neugier doch wieder und mit ihr die Hoffnung, die Angst endlich loszuwerden, wenn es ihm gelang, Brigittes Mörder zu finden. Während er zum Archiv lief, fragte er sich, warum die Polizei nicht vorankam. Er hatte es aufgegeben, mit Taut zu telefonieren. Sollte er dem Kriminalrat sagen, er habe eine heiße Spur in Weimar? Der würde ihn auslachen, und Stachelmann könnte es verstehen. Er hatte sich blamiert. In diesem Fall half nicht die Kriminaltechnik, sondern historischer Sachverstand. Es ging nicht darum, ob Bohming ein Alibi hatte, sondern worin er sich verstrickt hatte, welche Lebenslüge er vor aller Welt verbarg. Und wenn es Stachelmann gelang, dieses Geheimnis zu lüften, dann würde sich alles andere von selbst ergeben. Davon war er überzeugt, auch wenn eine innere Stimme ihm sagte, er habe sich oft genug geirrt, es könnte wieder geschehen. Womöglich war die Polizei nicht auf diese Spur gekommen, weil es sie nur in Stachelmanns Einbildung gab. Er wurde unsicher. Und wenn Bohming gar nichts zu tun hatte mit der Sache? Wenn Brigitte auch auf dem Holzweg gewesen war und sie aus einem anderen Grund ermordet worden war? Um Himmels willen, was sollte er dann tun?
Er schaute sich um, ob ihm jemand folgte. Er blieb stehen und beobachtete die Passanten. Niemand verhielt sich auffällig. Aber ein Verfolger würde sich mühen, nicht aufzufallen. Aber wie sollte Brigittes Mörder wissen, dass Stachelmann in Weimar war? Vielleicht schloss er es aus den Akten, die er Brigitte abgenommen hatte? Er ließ seine Augen noch einmal über die Straße schweifen, dann setzte er seinen Weg fort.
Oschatz winkte ihm freundlich zu, als Stachelmann in den Benutzersaal trat. Am Tisch neben der Tür saß ein
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