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Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)

Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)

Titel: Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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straffrei davongekommen. Und wenn sie verurteilt wurden, dann meist zu niedrigen Strafen. Massenmord bei den Nazis ist vor Gericht günstiger zu haben als Mord für RAF-Terroristen. Die Schinder, die Ende der Vierzigerjahre verurteilt wurden, waren Mitte der Fünfzigerjahre wieder auf freiem Fuß. Eine Welle von Petitionen aus der Bevölkerung hatte Begnadigung und Amnestie gefordert. Nicht nur für die Mörder von Buchenwald, sondern auch für die Organisatoren des Massenmordes wie die Leiter von Einsatzgruppen. Für die übelsten SS-Massenmörder, die im bayerischen Landsberg einsaßen, verwendete sich Anfang der Fünfzigerjahre sogar eine Delegation des Deutschen Bundestages. Im Interesse eines westdeutschen Wehrbeitrags sei die Begnadigung der Mörder unabdingbar, forderten Vertreter fast aller Fraktionen, eingeschlossen die sozialdemokratische. Daran dachte Stachelmann, als er wieder vor der Effektenkammer stand und dem Treiben von Schülern zusah, die sich um einige Busladungen vermehrt hatten. Wie sollte man Jugendlichen von heute erklären, was damals im Volk gedacht worden war? Dass Hitler, Himmler, Göring und Goebbels die Täter seien, wenn es denn Täter geben müsse, aber nicht die tapferen Männer, die von dieser womöglich verbrecherischen Führung an ihre Plätze befohlen wurden. Sie hatten nur ihre Pflicht getan. So wie mein Vater, dachte Stachelmann.
    Buchenwald war ein Ort, der zum Nachdenken zwang. Er konnte sich dem nicht entziehen. Hier fiel ihm auf, dass der Riss zwischen den Generationen sich nicht 1945 auftat, sondern viel später. Bis in die Sechzigerjahre gehörten die Mörder ganz selbstverständlich zum Volk, sie waren Opfer, fehlgeleitet durch eine Führung, die so viel falsch gemacht hatte. Vor allem das mit den Juden war ein Fehler, ohne den hätte man den Krieg nicht verloren. Es gab damals in Westdeutschland keinen einzigen Stammtisch, an dem die Verbrechen der Nazis uneingeschränkt verurteilt wurden. Stachelmann schien es aus einer fernen Zeit zu kommen. Dabei hatte er diese Leute noch erlebt. Was hatten sie gesagt? Du kannst darüber nicht mitreden, du warst nicht dabei.
    Er hatte, ohne es recht zu bemerken, das Lagergelände verlassen und stand plötzlich vor dem Pferdestall. Das Gebäude diente schon damals nicht mehr seinem eigentlichen Zweck. Es war eine Genickschussanlage, in der die SS Menschen im Minutentakt erschoss durch ein Loch in der Messlatte eines Hinrichtungsraums, der aussah wie ein Arztzimmer. Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen wurden hier ermordet. Am Pferdestall vorbei marschierten Arbeitskommandos in den Steinbruch.
    Stachelmann fielen die Diskussionsbeiträge in dem Internetforum ein. Es habe sogar ein KZ-Bordell gegeben, wurde da angeführt als Beweis dafür, dass die Lager nicht so schrecklich gewesen sein konnten, wie gemeinhin behauptet werde. In der Ausstellung hatte er wieder das Bordell entdeckt. Es wurde 1943 eingerichtet, die Prostituierten waren auch Gefangene, einige kamen aus dem Frauen-KZ Ravensbrück. In diesem Jahr wurde selbst den Nazis klar, dass der Krieg auf der Kippe stand, in Wahrheit hatten sie ihn schon verloren. Und die KZs wurden Arbeitslager, sie produzierten für den Endsieg. In Buchenwald waren es vor allem die Deutschen Ausrüstungswerke und das Gustloff-Werk II, in dem Teile der V-2-Rakete hergestellt wurden. Es herrschte eine unmenschliche Arbeitshetze, bald kamen Luftangriffe auf die Industrieanlagen dazu, vor denen sich nur die SS in Bunkern schützen durfte. Zuckerbrot und Peitsche: Es war die Idee Himmlers, Bordelle in KZs einzurichten, um die Häftlinge zu Höchstleistungen anzutreiben, über das hinaus, was man mit Prügel, Peitsche und unablässiger Todesdrohung erzwingen konnte. Aber das beendete nicht die Misshandlungen und das Sterben. Er war Zynismus in Vollendung.
    Im selben Jahr wie das Bordell wurde das Kleine Lager eingerichtet, eine Siedlung mit fensterlosen Baracken, ehemaligen Pferdeställen der Wehrmacht, durch einen Zaun abgesperrt. Ein KZ im KZ, mit unvorstellbaren Todesraten. Hier gab es noch weniger zu essen, herrschte nicht die geringste Hygiene, drängten sich Tausende von Menschen aneinander, bevor sie starben wie Fliegen an Hunger, an Krankheiten, wenn sie nicht totgespritzt wurden oder das Leben aus ihnen herausgeprügelt wurde.
    Stachelmann ging langsam zurück zu seinem Auto, er begann zu frieren. Was er sah, mochte noch so eindrücklich, was er las, noch so gut beschrieben sein, begreifen

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