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Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)

Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)

Titel: Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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geschehen würde, wenn er die Habilschrift veröffentlichte. Und wenn, darf man der Gewalt weichen? Darf man sich zensieren lassen durch einen Irren, dem es gefiel, auf Menschen zu schießen?
    Er mühte sich wieder, die Sätze zu begreifen, die in der Seminararbeit standen. Aber es gelang ihm nicht. Er stand auf und wanderte im Zimmer umher. Auf einmal lachte er bitter, als er begriff, dass er bei seiner Wanderung einen Bogen machte um das Fenster, obwohl die Vorhänge zugezogen waren. So weit ist es schon, dass du glaubst, jederzeit könnte einer auf dich schießen, obwohl da unten ein Polizeiauto steht und sich gewiss hier und da weitere Beamte aufhalten, um Spuren zu sichern oder auf das Glück zu warten, dass ihnen der Irre in die Arme läuft.
    Stachelmann überlegte, ob er spazieren gehen sollte. Gerade um gegen die Angst anzugehen und weil er es nicht schaffte zu arbeiten. Wenn der Schütze dir noch auf der Spur ist, wird er nicht damit rechnen, dass du in der Gegend herumläufst. Er wird erwarten, dass du dich verkriechst. Aber wahrscheinlich erwartet er gar nichts, sondern versucht sich zu verstecken. Also raus, an die frische Luft, dorthin, wo du eine Zielscheibe abgeben könntest. Sicher wärst du nur, wenn du dich zu Hause verschanzen würdest unter dem Schutz der Polizei rund um die Uhr. Das schaffst du nicht, du kannst mir Angst einflößen, aber ich verkrieche mich nicht. Ich halte auch nicht still, ich suche dich. Je eher ich dich finde, desto eher bin ich den Schrecken los. Du hast dir den Falschen ausgesucht. Da gab es schon einige, die wollten mich nicht ernst nehmen. Schau dir an, was aus ihnen geworden ist.
    Es klopfte, Stachelmann fuhr zusammen. Sein Herz raste, Schweiß trat auf die Stirn. Er ging zur Tür, schloss auf und Anne trat ein.
    »Mein Gott, was ist denn mit dir los?«
    Er starrte sie an, dann senkte er den Blick auf die Tischplatte. »Nichts.«
    »Aha.«
    »Ich wollte gerade ein bisschen in der Gegend herumlaufen. Kommst du mit?«
    Sie nickte und schluckte hinunter, was sie sagen wollte.
    Schweigend fuhren sie vom zehnten Stock ins Erdgeschoss. Als er durch die Tür ins Freie trat, begann sein Herz wieder zu rasen. Sie hängte sich ein, und sie gingen in Richtung Abaton, durch das Schussfeld des Irren. Stachelmann schaute zum Dach der WiSo-Fakultät. Fast bildete er sich ein, die Linse eines Zielfernrohrs blitzen zu sehen. Aber das wäre unmöglich ohne Sonne. Eine nasse Bö fegte durch den Von-Melle-Park, wirbelte Pfützenwasser auf und trieb eine Zeitung übers Pflaster. Sie blieb an einer Stange hängen, wurde gebläht und zerrissen. Die Fetzen trieben weiter. Stachelmann fröstelte. Er schaute Anne an, sie war bleich. Natürlich hatte sie Angst, aber sie war tapfer, versuchte gar nicht erst, ihn zu überreden, er möge sich verkriechen. Das tat er nicht, sie wusste das. Und es gefiel ihr.
    Der Regen wurde stärker, der Wind blies ihnen das Wasser ins Gesicht. Sie taten so, als würden sie es nicht merken.
    »Findet dein Seminar überhaupt statt?«
    »Keine Ahnung. Abgesagt wurde es nicht.«
    »Die Fakultät und der Sagenhafte haben sich nicht zu einem Beschluss durchringen können«, sagte Anne. »Begründung: Wir beugen uns nicht der Gewalt. Aber keiner von diesen Helden ist heute gekommen. Bohmings Hauptseminar fällt ›wegen Krankheit‹ aus. Hast du den Aushang gesehen? Der sitzt putzmunter zu Hause mit Frau und Sohn und labert über seine Heldentaten.«
    Stachelmann schüttelte den Kopf. Ihn wunderte es nicht. Was sollte er dazu sagen? Dann sagte er: »Sie hätten das Seminar schließen sollen.«
    »Gewiss. Aber Bohming möchte sich weder Feigheit noch Fahrlässigkeit vorwerfen lassen. Also tut er gar nichts«, erwiderte Anne.
    »Ich werde mein Seminar abhalten, sollte es Studenten geben, die sich hertrauen.«
    Ihre Schritte führten sie ins Abaton-Restaurant. Sie fanden einen freien Tisch am Ende des Speisesaals, hier fühlte sich Stachelmann einigermaßen sicher. Sie bestellten Kaffee, Anne ein Stück Kuchen. Sie schwiegen, er ließ seine Augen durch den Gastraum wandern, aber sein Hirn war woanders, sodass er nicht wahrnahm, was er sah.
    »Vielleicht sitzt einer von dieser Internet-Diskussionsgruppe in deinem Seminar«, sagte Anne.
    Stachelmann erschrak, darauf war er nicht gekommen, auch wenn es in jeder Hinsicht nahelag. »Und da habe ich natürlich immer mal wieder Positionen aus der Habilschrift zitiert.« Er dachte eine Weile nach. »Aber es hat keiner protestiert,

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