Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Häftlingskleidung zu desinfizieren. In verschiedenen Diskussionssträngen tauchten immer wieder dieselben Leute auf, natürlich nicht mit Klarnamen, aus Angst vor dem Staatsanwalt. Stachelmann fiel auf, dass immer wieder das Recht auf Meinungsfreiheit gefordert wurde für Nazis und Auschwitzleugner, die vor Gericht standen. Es gehe um einen wissenschaftlichen Streit, wurde behauptet, wo es in Wahrheit nur darum ging, Millionen von Toten wegzudiskutieren, die deutsche Geschichte vom Völkermord zu reinigen. Eine Weile lenkte ihn seine Fassungslosigkeit ab von der Bedrohung, der er ausgesetzt war. Aber dann packte ihn der Zorn, denn dieser E.T. hielt ihn für einen von diesen Lügnern, für einen Revisionisten, der die Verbrechen der Nazis in Buchenwald verharmloste. Nichts fand sich in seiner Arbeit, kein Wort, das diese Beschuldigung rechtfertigen könnte. Und niemals hatte er im Seminar etwas gesagt, das man so auslegen könnte. Und überhaupt, was sind das für Leute, die sich aufschwingen, andere zum Tod zu verurteilen, weil sie anderer Meinung sind?
Er starrte zornig auf den Bildschirm, sah die Namen von Nazis, Antinazis und seltsamen Leuten, deren Beiträge er nicht verstand. Einer schrieb:
Sagt mir den Namen von einem einzigen Juden, der in Auschwitz vergast wurde. Nur einen Namen.
Stachelmann betrachtete diese Zeile immer wieder, er konnte es nicht glauben. Sollte er dem entgegentreten? Aber dann las er in anderen Beiträgen, dass man sich nicht auf Diskussionen mit diesen Leuten einlassen dürfe. Es habe keinen Sinn, die seien nicht belehrbar, würden nur aufgewertet. Es gehe nicht um Wahrheit oder auch nur um Quellen und Tatsachen, das seien Überzeugungstäter, die alles leugneten, was ihren Auffassungen widerspreche. Trolls wurden sie genannt, und darin steckte die Aufforderung, sich aus dem Forum zu trollen.
Er rief Anne an: »Ich gucke mir gerade Beiträge in diesem Geschichtsforum an. Nazis, überall Nazis.«
»Ich weiß«, sagte Anne. »Das Internet ist für die Typen die beste Suhle. Man kann sich tarnen und Nazithesen verkünden.«
»Dann ist das Gesetz gegen die Auschwitzlüge das Papier nicht wert, auf dem es steht.«
»Ich halte das ohnehin für ein Alibi zum Zweck der Exportförderung. Die Regierung zeigt Wohlverhalten, die Wirtschaft brummt, und der Naziwahn geht weiter. Aber die Politik hat ja alles getan.«
»Man sollte mal ein Seminar über symbolische Politik anbieten«, sagte Stachelmann. »Aber das fällt nicht in mein Ressort.«
»Kommst du heute Abend?«
»Zu gefährlich«, sagte er. »Ich will euch nicht hineinziehen in diese Sache.«
Sie schwieg einige Augenblicke, dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass der dich bis zu mir verfolgen würde. Aber wenn du meinst.«
Er hatte kaum aufgelegt, da klingelte das Telefon. Seine Mutter meldete sich, und er hatte ein schlechtes Gewissen. Sie rief ihn so gut wie nie im Seminar an.
»Ich habe im Fernsehen gesehen, was an der Universität passiert ist. Du bist doch nicht der Dozent, auf den geschossen wurde?«
»Nein«, sagte er. »Das Fernsehen übertreibt, wie immer. Wie du hörst, lebe ich. Mir geht es gut.«
»Wenn es so ist«, sagte sie. Sie glaubte ihm nicht. Ihre Stimme war schwach. Sie war nach zwei Krebsoperationen nicht mehr richtig auf die Beine gekommen. Jeden Tag kam eine Altenpflegerin zu ihr. Er nahm sich vor, sie öfter zu besuchen. Doch das hatte er sich schon häufig vorgenommen. Sie redeten noch ein wenig über die vergangenen Ostertage und das zu kalte Wetter. »Ich komme bald«, sagte er zum Abschied.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Warum fiel ihm immer der Vater ein, wenn er mit der Mutter sprach? Der Vater, den sie auf dem Waldfriedhof in Reinbek begraben hatte. Sein Vater und er hatten sich schon lange nichts mehr zu sagen gehabt. Der Vater war Nazi gewesen und hatte darauf bestanden, dass Stachelmann es verstehen müsse. Aber der hatte nicht verstanden, wie man KZ-Häftlinge und Sträflinge beim Bombenräumen bewachen konnte, ohne sich wenigstens nach dem Krieg schuldig zu fühlen.
Die Angst meldete sich zurück. Wie lange würde er es aushalten, dass ihn einer verfolgte, vielleicht sogar umbringen wollte? Er war gespannt, wer im Seminar erscheinen würde. Die Semesterferien waren gerade erst vorbei, trotzdem hatten einige Studenten schon Seminararbeiten vorgelegt. So viel Eifer hatte es früher nicht gegeben. Dafür aber mehr Interesse, auch am Streit.
Die Zeit kroch. Er blätterte in
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