Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
und das würde ich erwarten von einem, der rabiat wird. Und außerdem habe ich nicht dazu gesagt, dass das in meiner Habilschrift steht. Die habe ich dort bestimmt nicht mal erwähnt.«
»Der hätte sich verdächtig gemacht«, sagte Anne. »Ist doch klar.«
Stachelmann war nichts klar. »Wenn jemandem meine Meinung nicht passt, dann sagt er es doch.«
»Das ist naiv. Viele Leute haben Angst davor.«
»Und veranstalten dann eine Schießerei. Das gibt's nicht.«
»Sei dir nicht so sicher.«
Die Kellnerin servierte Kaffee und Kuchen. Anne zog gleich den Teller zu sich und begann zu essen. Stachelmann sah zu, er hätte keinen Bissen hinuntergekriegt. Er prüfte im Geist die Studenten seines Seminars. Wer kam in Frage? Aber ihm fiel niemand ein, der sich hervorgetan hatte mit Kritik. Kein Student hatte ihn angegriffen. Gefragt hatte dieser und jene, eher schüchtern, manche nur, um vorzutäuschen, dass sie sich interessierten.
»Hast du dir die Teilnehmer deines Seminars mal genauer betrachtet?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, mal überlegt, ob einer von denen zu dieser Gruppe gehören könnte, die diesen Quatsch im Internet veranstaltet?«
»Leider hat sich noch keiner von denen bei mir vorgestellt.« Aber vielleicht hat sie recht. Es wäre eine Spur. Warum hat die Polizei mich noch nicht danach gefragt? Offenbar glauben die nicht, dass dieser Irre es auf mich abgesehen hat. Obwohl sie mir Personenschutz geben. Die wollen keinen Fehler machen, nicht hinterher hören, sie hätten besser auf mich aufpassen müssen. Sie schützen nicht mich, sondern sich. Aber wenn einer aus seinem Seminar mit der Sache zu tun hatte, dann wird er es sich nicht entgehen lassen, heute aufzutauchen, um zu sehen, wie ich mich verhalte, wie die Schießerei, die Kampagne im Internet und das Geschmiere an den Wänden des Philosophenturms auf mich wirken. Wenn es mir darum ginge, einen fertigzumachen, dann würde ich jede Gelegenheit nutzen, um zu prüfen, ob es funktionierte. »Wenn einer aus meinem Seminar da mitmacht, dann erscheint er heute.«
Anne nickte. »Um seinen Triumph zu genießen.«
»Nein, gewonnen hat er noch nicht. Aber er will schauen, ob ich antrete und wenn ja, ob ich Wirkung zeige.«
»Der Feind sitzt im Seminar, hat dich im Visier« – ihm schauderte –, »aber du kennst ihn nicht«, sagte Anne. »Hol doch die Kripo, die soll sich jeden Studenten vornehmen, der heute auftaucht.«
»Das kann ich nicht machen. Soll die jeden durchsuchen? Nein, das geht nicht.«
»Du kannst dir solche Feinsinnigkeit nicht leisten, Josef.«
»Ich kann es mir nicht leisten, meine Studenten der Polizei auszuliefern.«
»Es geht um Leben und Tod«, sagte Anne ein wenig pathetisch. »Da hört die Höflichkeit auf.«
Stachelmann antwortete nicht. Er stellte sich vor, wie Polizisten jeden Studenten einer Leibesvisitation unterzogen, weil ihr Dozent es verlangt hatte. Danach wäre er unten durch, keinesfalls mehr so beliebt, wie Anne es manchmal behauptete. In der Tat, seine Seminare und Vorlesungen waren gut besucht, besser als die von anderen Lehrkräften. Aber rechtfertigten außergewöhnliche Situationen nicht außergewöhnliche Maßnahmen? »Der wird nicht so dumm sein, belastendes Material in der Hosentasche mitzubringen.«
Anne wusste, es hatte keinen Sinn, ihm zu widersprechen, wenn er sich festgelegt hatte. Er war ein sturer Bock. »Mag sein«, sagte sie, um etwas zu sagen.
Sie sprachen nicht mehr viel, bis sie gingen. Anne musste nach Hause, Stachelmann ins Seminar.
In seinem Büro warf er einen Blick auf den Stapel mit den Seminararbeiten, dann wandte er sich dem Computer zu. Er rief die Diskussionsgruppe auf, sah, dass es keine neuen Einträge zu seinem Thema gab, und betrachtete die anderen threads. Je länger er hier und dort las, umso ekliger erschien ihm das Forum. Da tummelte sich ein Gemisch aus Revisionisten und Nazis, sofern es da Unterschiede gab, die versuchten, die Gräuel der KZs zu leugnen, auch das Morden in den Vernichtungslagern. In Buchenwald habe es doch einen Fußballplatz gegeben, auch ein Bordell, eine Theatergruppe, einen Laden zum Einkaufen: So schrecklich könne es dort ja nicht gewesen sein. Und in Auschwitz seien ein paar Tausend umgekommen, bedauerlicherweise, aufgrund von Epidemien, wie sie nicht ausblieben, wenn Menschen eng zusammengepfercht würden. Das sei kein Ferienparadies gewesen, gewiss nicht, aber Gaskammern habe es nicht gegeben, höchstens zu Versuchszwecken, um die
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