Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
sich nichts ergeben, das ihm helfen könnte. Manchmal versuchte er sich vorzustellen, wie Brigitte sich mit dem Todesschützen abstimmte, aber es passte nicht. Der schießwütige Irre hatte wohl doch nichts zu tun mit der Kampagne gegen ihn. Aber beides geschah im gleichen Augenblick, solche Zufälle sind rar.
Anne kam vorbei. Sie las die Zitate und prustete los. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Entschuldigung, aber das ist nur noch lachhaft. Das weiß doch jeder, was in den Zitaten steht. Deswegen das Theater?« Sie schaute ihn an, als müsste er eine Antwort wissen. »Das kann doch kein Grund sein, auf Leute zu schießen oder auch nur eine Kampagne loszutreten.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben es mit einem Verrückten zu tun, jede andere Erklärung wäre absurd.«
Wie oft hatte er darüber nachgedacht, als er die Woche zu Hause gesessen und gegrübelt hatte. Er war keinen Millimeter weitergekommen. Manchmal hatte ihn die Verzweiflung gepackt, manchmal die Wut. Dann stellte er sich vor, wie er den Kerl jagte und tötete. Mit den Händen erwürgte. Dann lachte er über sich und seine Anwandlungen, die in einem grotesken Gegensatz standen zu den Möglichkeiten seines Körpers.
»Ob ich mich doch einmischen sollte in dieser Diskussionsgruppe, anonym natürlich?«
Sie bedachte die Idee, dann sagte sie: »Und was soll das bringen?«
»Jede Äußerung von diesen Leuten könnte etwas verraten über sie.«
»Nimm lieber diese Studentin in die Mangel.« Sie lachte kurz auf. »Du weißt, wie ich es meine.«
Er antwortete nicht, hörte kaum zu, lauschte einer inneren Stimme, die ihm einflüsterte, es sei alles umsonst. »Es hat keinen Sinn«, sagte er endlich. Er starrte sie an, dann schaute er an ihr vorbei an die Wand.
Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte er: »Ich habe keine Wahl. Ich muss es herausbekommen. Wie soll ich leben, wenn ich immer nur Angst habe, dass mich einer ermordet?«
Sie nahm ihn lange in den Arm, bevor sie ging. »Wenn du willst, kannst du zu uns kommen. Ich glaube nicht, dass das besonders riskant wäre. Wahrscheinlich weiß der Kerl gar nicht, dass es mich gibt. Bei mir bist du sicherer. Er weiß bestimmt längst, wo du wohnst, steht ja im Telefonbuch. Denk mal drüber nach.«
Stachelmann antwortete nicht. Er sah ihr nach, als sie ging. Warum war sie so gut zu ihm, wo er sie doch so oft enttäuscht hatte?
Er musste sich beherrschen, nicht zu früh in den Seminarraum zu gehen. Als es endlich so weit war, zählte er dreizehn Teilnehmer. Eine Art Normalisierung, achtzehn hatten sich am Anfang eingeschrieben. Brigitte trug einen dunkelblauen Pulli, sie sah gut aus. Sie begrüßte ihn mit einem Blick, der ihn verunsicherte. Was wusste sie?
»Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Ereignisse der jüngsten Zeit verfolgt hat« – sechsundzwanzig Augen blickten ihn an – »und wer weiß, dass im Internet eine Kampagne gegen mich läuft. Vielleicht haben Sie die Zitate gelesen, allerdings dürften diese für Sie nicht neu sein. Wir haben immer mal wieder darüber diskutiert ...«
»Aber die Kritik an diesen Zitaten haben Sie auch schon gehört«, sagte die Pummelige mit den schwarzen Haaren. Der Typ mit der Gelfrisur nickte. Er saß wieder neben der Schönen, die diesmal aber nicht aufgelegt schien zu lachen.
Natürlich erinnerte er sich, dass Brigitte ihm oft widersprochen hatte, während die anderen nur zuhörten. »Was ist Ihre Meinung?«
Die Pummelige staunte ihn an, sie hatte nicht damit gerechnet, aufgerufen zu werden wie in der Schule. »Äh, ich finde es ... schrecklich.«
»Was?«, fragte Brigitte.
»Na, alles.«
»Wollen Sie uns jetzt verhören?«, fragte die Frau mit der Pagenfrisur. Stachelmann hatte nicht erwartet, dass sie wieder erscheinen würde, nachdem sie beim letzten Mal wütend abgerauscht war, ohne sich darum zu scheren, dass sie sich verdächtig machen könnte.
»Verstehen Sie nicht, dass ich herausbekommen muss, wer hinter der Kampagne steckt? Und noch mehr, wer auf mich geschossen hat ...«
»Immerhin haben Sie überlebt«, unterbrach ihn der Student mit den Zottelhaaren.
Brigitte nickte.
Stachelmann mühte sich, seinen Zorn zu unterdrücken. »Das ist mir bewusst. Aber was würden Sie tun, wenn jemand auf Sie geschossen hätte?«
Der Zottelhaarige guckte ihn mit leeren Augen an. »Auf mich hat noch keiner geschossen. Wie ich darauf reagiere, überlege ich mir, wenn es so weit ist.«
Unterdrücktes Gekicher. Die Schöne und der Gegelte steckten
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