Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
wusste nun, dass er auf sich allein gestellt war.
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Erst eine Woche später stellte E.T. zwei Zitate in die Diskussionsgruppe. Das erste stammte aus einer Fußnote:
Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann war Stalins treuester Parteigänger in Deutschland. Ende September 1928 enthob ihn das ZK der KPD aller Funktionen, weil er daran beteiligt gewesen war, die Veruntreuung von Parteigeldern durch den Hamburger KPD-Funktionär Wittorf zu vertuschen. Kurz darauf setzte ihn das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) auf Intervention Stalins wieder ein. Unter Thälmanns Führerschaft verwandelte sich die KPD seit Mitte der Zwanzigerjahre in ein Anhängsel der Komintern bzw. Stalins. Der geheime Militärapparat und Nachrichtendienst der KPD wurde von Funktionären des sowjetischen Geheimdienstes GPU geleitet. Analog zu den innerparteilichen Machtkämpfen in Moskau zerfiel auch die Führung der KPD in Fraktionen. Bis in die Endphase der Weimarer Republik verweigerte die KPD eine Einheitsfront mit der SPD gegen die Nationalsozialisten. Stattdessen bekämpfte sie die Sozialdemokratie als »Sozialfaschisten«, die sie zeitweise als gefährlicher einstufte als die Nazis. Die Propagierung einer antifaschistischen Einheitsfront diente bis zum Ende vor allem dem Versuch, die Mitgliedschaft gegen die SPD-Führung auszuspielen (»Einheitsfront von unten«). Den Sieg der Nazis interpretierten Thälmann und Genossen zunächst als Vorspiel der sozialistischen Revolution. Thälmann wurde bald nach der Machtübertragung an die Nazis verhaftet. Aus Kassibern und Mitteilungen an die Ehefrau wird deutlich, dass er die Politik der Sowjetunion und der Komintern in allen Details unterstützte, auch den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939. Es ist nicht dokumentiert, warum Stalin in dieser Zeit nicht die Gelegenheit nutzte, Thälmann aus der Nazihaft zu befreien, wogegen die KPdSU den Nazis deutsche Emigranten auslieferte, darunter auch die Ehefrau des ehemaligen KPD-Politbüro-Mitglieds und Thälmann-Vertrauten Heinz Neumann. Am 17. August 1944 wurde Thälmann auf Befehl Hitlers von Bautzen nach Buchenwald gebracht und dort ermordet.
Das zweite Zitat war ein kurzer Auszug aus dem Epilog:
Eine Selbstbefreiung des KZ hat es nicht gegeben. Als die SS-Wachmannschaften im April 1945 vor den heranrückenden US-Truppen flohen, besetzten bewaffnete Häftlinge das Tor, und das Internationale Lagerkomitee übernahm die Kommandogewalt. (...)
Nach Kriegsende wurde Buchenwald zum sowjetischen Sonderlager, mit einer Todesrate, die sich nicht wesentlich unterschied von der in den Jahren, als die SS das KZ beherrscht hatte. Die Toten der Sowjetzeit sind Opfer der Gleichgültigkeit, die Toten der NS-Zeit Opfer des SS-Terrors.
Stachelmann hatte darauf gewartet, dass endlich die angekündigten Zitate veröffentlicht wurden, er war immer nervöser geworden, hatte verfolgt, wie die Diskussion verdummte, vor allem seit sich diskussionsgruppenbekannte Revisionisten einzumischen begannen, die Stachelmann nur »Halbnazis« nannte. Als die beiden Zitate dann da standen, war er enttäuscht. Lächerlich, deswegen eine Kampagne und vielleicht sogar die Schüsse. Er las die Textstellen mehrfach durch, als könnte er ihnen so mehr Bedeutung abringen, etwas, das vielleicht einem Spinner als Rechtfertigung dienen könnte, sich aufregen zu dürfen. Aber das, was E.T. zitierte, war seit langem bekannt. Er schien tatsächlich an die Buchenwald-Legenden zu glauben, die die SED geschaffen hatte, um ihre Herrschaft historisch und moralisch zu rechtfertigen. Der Aufstand unter Führung der KPD, der Sieg über die SS. Maßlos übertrieben und vor allem überflüssig, denn unbestreitbar hatten die Kommunisten einiges erreicht in ihrem zähen und mutigen Kampf gegen die SS. Stachelmann las wieder und schüttelte den Kopf. Immerhin schien ihm jetzt zweifelsfrei klar, dass E.T. für »Ernst Thälmann« stand. Wer verbarg sich hinter dem Kürzel? Brigitte?
Er ließ das Frühstück ausfallen. Es zog ihn an die Universität, heute war sein Seminar, und er wollte erfahren, was Brigitte und die anderen Seminarteilnehmer von den Zitaten hielten. Schnell schrieb er dem Kommissar Kurz eine Mail, in der er auf die Diskussionsgruppe verwies, dann eilte er zum Bahnhof und erwischte einen frühen Zug nach Hamburg.
Er hatte auch am Mittag keinen Hunger, sondern wartete ungeduldig auf den Beginn des Seminars, auch wenn er sich wieder und wieder sagte, es würde
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