Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
wieder so merkwürdig an, verzweifelt vielleicht, aber er fragte nicht, da er fürchtete, sie würde wieder ausrasten. Vielleicht sollten sie endlich einen Urlaub miteinander machen. Weit wegfahren und alle Arbeit und Sorge zu Hause lassen. Wenn er länger darüber nachdachte, das geschah nicht oft, dann ahnte er, es würde ihnen nicht gelingen. Etwas davon reiste immer mit.
Jetzt wollte er sowieso nicht weg. Erst musste der Schütze gefasst sein. Er kramte sein Handy aus der Jacketttasche und wählte Ossis Nummer. Zwar gab es Ossi nicht mehr, aber die Nummer hatte Stachelmann gespeichert, und es würde nun jemand anders ans Telefon gehen.
»Wohlmann, Mordkommission.«
»Stachelmann, ist der Herr Taut zu sprechen?«
»Ich verbinde.« Ossis Nachfolger hieß offenbar Wohlmann.
»Taut.«
»Stachelmann. Herr Taut, haben Sie den Schützen?«
»Nein.«
»Wenigstens eine Spur?«
»Eigentlich nicht.«
»Kann ich nochmal aufs Dach der WiSo-Fakultät?«
»Sie können hin.«
»Wollen Sie nicht mitkommen?«
Taut zögerte. Stachelmann wusste, der dicke Mann hasste körperliche Bewegung. Zuletzt hatte Stachelmann über Ernst Gennat, den berühmten Berliner Kriminalisten in Kaiserzeit, Weimarer Republik und NS-Regime, gelesen, der sich mit Kuchen mästete, bis er sich kaum noch rühren konnte. Taut erinnerte ihn an Gennat, wenngleich Taut vermutlich nicht genial war. Außerdem wusste Stachelmann nicht, ob Taut sich seine Fettleibigkeit auch mit Torte angefressen hatte.
»Gut«, sagte Taut endlich.
»In einer Stunde vor dem Gebäude?«
Taut zögerte, aber nicht mehr so lang: »Gut, ich werde da sein. Vielleicht fällt Ihnen ja was auf, das wir übersehen haben.« Er klang nicht überzeugt. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ist ja schon mal so gewesen.«
Stachelmann ging schneller. Bald spürte er den Schweiß. Endlich war er an der U-Bahn-Station Hudtwalckerstraße. Er nahm die U 1 Richtung Ohlstedt bis zum Stephansplatz und lief dann, am Dammtorbahnhof vorbei, zur Uni. Er war zu früh. Es nieselte inzwischen, der Wind fegte die Tröpfchen durch den Von-Melle-Park, sie piekten im Gesicht. Und es war plötzlich kalt geworden. Ein Pärchen lief Hand in Hand vorbei, gleich sank seine Laune, weil es ihn an seine Beziehung mit Anne erinnerte. Dann rollte ein Auto heran und hielt direkt vor ihm. Die Beifahrertür öffnete sich, Taut quälte sich aus dem Wagen. Er sah finster aus, wahrscheinlich übernächtigt und enttäuscht, weil sie nicht vorankamen. Nur deshalb ließ sich Taut wohl darauf ein, mit Stachelmann auf das Dach der WiSo-Fakultät zu gehen. Oben würde der Wind noch schärfer blasen, aber das war Stachelmann egal. Taut baute sich schnaufend vor Stachelmann auf. Er reichte ihm die Hand, schaute aber an ihm vorbei in Richtung WiSo-Fakultät. »Dann wollen wir mal.« Er hüstelte, als wollte er zeigen, dass er sogar das Risiko einging, sich eine Erkältung zu holen.
Sie fuhren im Aufzug zum obersten Stockwerk. Dann ging Taut voraus, öffnete mit einem Schlüssel die Stahltür, hinter der die Stahltreppe zum Dach führte. Er schloss die Luke auf, der Wind biss, als Stachelmann hinter Taut aufs Dach stieg. Taut ging in Richtung Philosophenturm und blieb am Rand stehen. Stachelmann sah wieder die Kreidekreise auf dem Dach, wo die Patronenhülsen gelegen hatten.
»Warum hat er die nicht eingesammelt?«
»Warum sollte er? Das G3 ist Massenware. Außerdem würde die Kriminaltechnik ihre Schlüsse aus den Kugeln ziehen. Natürlich, ob der das gewusst hat, keine Ahnung. Vielleicht ist er in Panik geraten. Er hätte das Gewehr liegen lassen können. Da wäre die Flucht einfacher gewesen.«
»Kein Zeuge?«
Taut schüttelte den Kopf.
»Wenn er das Gewehr getragen hat, das muss doch jemandem aufgefallen sein.«
»Vielleicht hat er es im Koffer eines Kontrabasses getragen.«
»Und woher hatte er den Schlüssel?«
»Brauchte er nicht. Dieser Idiot von Hausmeister hatte nicht abgeschlossen. Es war all die Jahre nicht abgeschlossen.«
»Hat der Hausmeister was damit zu tun?«
Taut winkte ab.
Stachelmann trat an den Rand des Daches und schaute hinüber zum Philosophenturm. Wieder zog es ihn nach unten. Ihm wurde schwindelig. Dann kam die Angst vor einer Bö, die ihn hinunter blasen könnte.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Taut.
»Doch, doch, nur ein bisschen Höhenangst.«
Taut schwieg. Sie starrten gemeinsam hinüber zu dem Platz vor dem Philosophenturm, auf das Schussfeld. Stachelmann überlegte, was in dem
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