Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
sich über Kraft klar zu werden. Aber es gelang ihm nicht. Der Mann war vielleicht so alt wie er. Er hätte ihn fragen sollen, welchen Beruf er hatte. Stachelmann ärgerte sich. Daraus hätte er möglicherweise etwas schließen können. Ihm kam er vor wie ein Dauerarbeitsloser, der sich in seinem Mief verkrochen hatte. Er hatte sich eine eigene Welt gebastelt. Gewiss konnte er alles genau erklären, wer warum schuld war, dass die Gesellschaft so schlecht war, wie es sich ja an seinem Fall schon zeigte. Ja, die Welt war schlecht, dachte Stachelmann. Eine Wahnwelt war noch schlechter, gerade weil sie einen einlullte in Selbstgerechtigkeit.
Langsam ging er zu seinem Auto. Dort angekommen, stieg er nicht ein, sondern lehnte sich an den Kotflügel. Eine Brise strich an seinem Gesicht entlang, sie war mild. Der Himmel riss auf, zwischen schwarzen Wolken zielten Sonnenstrahlen auf die Stadt. Einer verfing sich oben an dem Betonbau, er schien in Krafts Wohnzimmer. Stachelmann grinste, in früherer Zeit hätte das vielleicht als Zeichen gegolten.
Und dann ergriff ihn die Angst. Sie schüttelte ihn, als packte eine Hand seine Schulter. Überall konnte der Todesschütze lauern. Vielleicht war er Stachelmann gefolgt, und jetzt hätte er genug Zeit gehabt, einen Platz zu finden, von dem aus er auf ihn anlegen konnte. Stachelmann schaute sich um, dann setzte er sich ins Auto, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er startete den Wagen, legte den ersten Gang ein und würgte den Motor ab. Bleib ruhig, Panik ist Selbstmord. Er startete wieder, gab mehr Gas, legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Die Reifen quietschten, dann steuerte er den Wagen schnell auf die Straße. Die Erleichterung wuchs mit der Entfernung zu den Betonbauten in Steilshoop. Unterwegs rief er bei Brigitte an, aber niemand hob ab. Trotzdem fuhr er zur Wohnung.
Als er an der Haustür klingelte, hoffte er, sie würde ihm oben die Tür öffnen und ihn zu einer Tasse Kaffee einladen. Es summte. Sie war da und konnte alles erklären, bestimmt. Er eilte die Treppen hoch, die Wohnungstür war angelehnt, er trat ein und hörte Georgie sprechen. Es kam aus der Küche. Georgie saß am Tisch, hatte das Handy am Ohr und sülzte. »Ja, ich mag dich auch, aber mehr nicht.«
Als Georgie Stachelmann sah, zeigte er auf einen Stuhl und auf die Kaffeemaschine, die leise spotzte.
»Nun beruhige dich doch«, sagte Georgie. Er lauschte, schaute Stachelmann an und zog die Augenbrauen hoch.
Stachelmann zeichnete mit dem Finger ein Fragezeichen in die Luft und zeigte in die Richtung von Brigittes Zimmer.
Georgie schüttelte den Kopf. »Ist ja gut. Musst ja nicht gleich heulen. Lass uns später weitersprechen. Ich habe jetzt Besuch.«
Jetzt hörte Stachelmann die Stimme aus dem Handy, wenn er auch kein Wort verstand. Sie klang wehleidig. Das Gejammer wollte nicht aufhören. Endlich sagte Georgie: »Nein, es geht um meine Mitbewohnerin, die ist verschwunden. So, und um die muss ich mich jetzt kümmern.« Er drückte den Trennknopf und legte das Handy auf den Tisch. Er stöhnte leise, dann öffnete er den Mund, aber er sagte nichts, weil das Handy klingelte. Er schaute auf das Display und drückte wütend eine Taste. Dann legte er das Handy wieder vor sich auf den Tisch. »Hm. Manche schnallen es nie«, brummte er. »Ich würde es am liebsten ausmachen, aber vielleicht ruft Gitte ja an.«
Georgie sah müde aus. Seine Gesichtshaut war wächsern. »Ich habe kein Auge zugemacht letzte Nacht. Ehrlich gesagt, langsam mach ich mir wirklich Sorgen.«
»Ich war bei diesem Kraft«, sagte Stachelmann. »Hast du eine Ahnung, was Brigitte an dem fand?«
Georgie warf ihm einen erstaunten Blick zu. Ob er glaubt, ich sei eifersüchtig auf Kraft? Unsinn, ich bin verwirrt, dass sie mit so einem Kerl zu tun hatte.
»Hm. Ich kenn den nicht, sie hat den Namen erwähnt, Manfred. Irgendwie hat sie den für eine Koryphäe gehalten. Jedenfalls bis vor kurzem.«
Eine Gedanke flog Stachelmann an. Absurd, dachte er. Völlig abwegig. »Was heißt bis vor kurzem?«
»Na, der scheint in ihrer Gunst gefallen zu sein. Sie hat dein Seminar besucht, und da hat sie ihn wohl mit ein paar Thesen von dir überrascht. Und er hat nichts gewusst als ... wie hat sie gesagt? ... als Gelaber.«
»Worum ging es?«
»Weiß ich nicht. Ich hab sie nicht gefragt. Sie hat den Kontakt nicht abgebrochen, aber sie begann an ihm zu zweifeln. Und so, wie sie gestrickt ist, hat sie ihm das gleich gesagt. Seine Begeisterung
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